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| Atomkraftwerk Würgassen |
Das stillgelegte und abgebaute deutsche Atomkraftwerk Würgassen (KKW) befand sich im ostwestfälischen Weserbergland am rechten Weserufer in dem namensgebenden Dorf Würgassen, einem Stadtteil der Stadt Beverungen im ostwestfälischen Kreis Höxter, nur wenige Kilometer entfernt vom Dreiländereck von Nordrhein-Westfalen mit Niedersachsen und Hessen. Vom Norden bis zum Osten erhebt sich dort der Solling, ein waldreiches Mittelgebirge. Großstädte in der Nähe sind Kassel (Hessen, etwa 35 km südlich), Göttingen (Niedersachsen, etwa 40 km östlich) sowie Paderborn (Nordrhein-Westfalen, etwa 45 km westlich; jeweils Luftlinie).
Das AKW verfügte über einen Kraftwerksblock mit einem Siedewasserreaktor (SWR) der ersten Generation, einer Vorläufergeneration zu dem Kraftwerktyp Baulinie 69 (KWU). Der Reaktor hatte eine elektrischen Buttoleistung von 670 MWe und eine elektrischen Nettoleistung von 640 MWe. Die Dampfturbinen wurden von AEG Telefunken geliefert. Der Bau kostete 400 Millionen DM.
Neben dem Atomreaktor bestand das Atomkraftwerk Würgassen aus dem Sicherheitsbehälter, dem Maschinenhaus, der Kraftwerkswarte, dem Abluftkamin, zwei Kühltürmen und dem Netzanschluss. In Würgassen wurden zwei sogenannte Ventilatorkühltürme eingesetzt. Sie unterlagen dem normalen Baurecht und konnten somit vor der eigentlichen Anlage demontiert werden.
In der Betriebszeit von der Übergabe am 11. November 1975 bis zum 31. Dezember 1994 wurde das Atomkraftwerk Würgassen mehrmals abgeschaltet:
- an 1.309 Tagen für 16 Revisionen,
- an 180,9 Tagen für 42 geplante Stillstände,
- an 61,8 Tagen wegen 63 Betriebsstörungen,
- an 64,6 Tagen wegen 17 außerplanmäßigen Reparaturen,
- an 386 Tagen wegen 2 sonstigen Anlässen (1989/90 Realisierung von Brandschutzmaßnahmen und 1994 Befunden am Kernmantel)
Verwaltungsmäßig gehörte das Atomkraftwerk zur Stadt Beverungen im Kreis Höxter.
Geschichte
1960er Jahre. Der zunehmende Energiebedarf in der Region Ostwestfalen, Südniedersachsen und Nordhessen sowie das durch die Weser zur Verfügung stehende Kühlwasser sind Gründe für die Wahl des Kernkraftwerksstandorts. Bereits die Planungsphase ist begleitet von erheblichen Protesten örtlicher Bürgerinitiativen.
26. Januar 1968. Baubeginn durch die Kraftwerk Union.
September 1971. Das AKW erhält die Genehmigung zur atomaren Inbetriebnahme.
20. Oktober 1971. Der Reaktor wird erstmals kritisch. Würgassen geht damit als erstes vollständig kommerziell genutzes AKW Deutschlands in Betrieb.
18. Dezember 1971. Der Reaktor wird erstmals mit dem Stromnetz synchronisiert.
11. November 1975. Das AKW geht mit der Übergabe an den Betreiber PreussenElektra in den kommerziellen Leistungsbetrieb.
13. Januar 1977. Bei einem Unfall wird der gesamte Reaktor A des AKW Gundremmingen zerstört. Wolfgang Schluchter (Sozialwissenschaftler, späteres Gründungsmitglied der Grünen) arbeitet zu dem Zeitpunkt im Atomforschungszentrum Karlsruhe und in den AKWs Obrigheim, Gundremmingen A, in Würgassen und im US-amerikanischen Battelle-Institut in Frankfurt am Main wo er an einem Nachbau eines Atomreaktors erforschen sollte wie sich AKWs im Störfall verhalten und wie mögliche Unfälle verhindert werden können. Unter dem Eindruck des Störfalls veröffentlicht er seine Schrift "Polizei und Wissenschaft, vereint gegen Bürgerinitiativen". Er wird deshalb aus dem Institut entlassen und des Hochverrats angeklagt, jedoch nicht verurteilt. Ausserdem wird er mit einem Berufsverbot belegt. Die US-amerikanische Militärpolizei durchsucht zudem seine Wohnung und beschlagnahmt seine wissenschaftlichen Manuskripte.
1978. Beim Ortsteil Drenke von Beverungen und damit acht Kilometer von Atomkraftwerk Würgassen entfernt stürzt ein britisches Kampfflugzeug vom Typ McDonnell F-4 im Tiefflug ab und zerschellt. Das löst eine intensive Diskussion darüber aus, inwieweit Atomkraftwerke gegen Flugzeugabsturz genügend abgesichert sind. Der Betreiber Preußen Elektra muss anschließend einräumen, dass das KKW Würgassen nur gegen eine "Aufprallgeschwindigkeit von 350 bis 450 km/h gesichert sei".
1980. Ein Kasseler Kinderarzt sammelt Erkrankungsfälle bösartiger Erkrankungen. Auffällig wird dabei die Umgebung des AKW Würgassen. Die Fälle werden mit den Informationen des Deutschen Krebsregisters verglichen wobei sich eine fast völlige Übereinstimmung zeigt. Es folgten weitere systematische Untersuchungen zusammen mit der Uni Bremen. Dabei zeigen sich statistisch signifikant erhöhte Erkrankungsraten im Abstand von 15 bis 20 km um das AKW (nicht für 0 bis 10 km, bzw. 0-15 km) Radius. Diese spezielle Konstellation wird potenziell auf Kamin-Abgaben zurückgeführt. v
1993. Die Untersuchung vom IMSD (1992) wurde von der Uni Göttingen um das AKW Wuergassen mit einem Untersuchungszeitraum 1980 bis 1988 erweitert. Dabei fallen statistisch nicht signifikante erhöhte Erkrankungsraten bei Leukämien und malignen Tumoren auf.
20. August 1982. Beim Auswechseln eines Sandfilters tritt radioaktiver Staub aus. Dieser liegt nach Angaben des nordrhein-westfälischen Arbeitsministeriums unter der zulässigen Strahlendosis. Es sollen keine Personen durch den Austritt betroffen sein.
26. August 1994. Der Reaktor wird zur jährlichen Routineinspektion heruntergefahren.
Oktober 1994. Der TÜV entdeckt in Zusammenarbeit mit der Materialprüfungsanstalt der Universität Stuttgart bei einer Routineinspektion Haarrisse in einem Stahlzylinder (Kernmantel) am Reaktorkern, die eine Länge bis zu 60 mm haben. Es kann nicht festgestellt werden, ob diese Risse schon beim Bau entstanden sind oder erst während des Betriebs. Der Stahlmantel hat die Aufgabe der Wärmeleitung und soll keinen Druck abhalten. Als Mechanismus für die Risse am Kernmantel sowie an den Kerngitterplatten wird aufgrund von zwei untersuchten Materialproben interkristalline Spannungsrisskorrosion festgestellt. Die Ursache wird in der Zusammensetzung des Werkstoffs sowie in der Glühbehandlung bei der Fertigung gesehen, durch die eine Sensibilisierung erfolgte.
Von den deutschen Behörden wird ein Austausch des Zylinders verlangt und ein neues Genehmigungsverfahren angekündigt. Dies ist PreussenElektra zu kostenaufwendig. Sie geht von einer Grundsanierung der Kerneinbauten aus, die mindestens 200 Millionen Deutsche Mark kosten und einen zweijährigen Stillstand verursachen würden.
31. Dezember 1994. Im Brennelementezwischenlager des abgeschalteten Atomkraftwerks sind 632 Brennelement-Positionen belegt, davon 117 (20 tSM) mit abgebrannten, 340 (59 tSM) mit teilabgebrannten Brennelementen, 175 mit sonstigen, zum Beispiel frischen Brennelementen.
Zudem lagern im Atomkraftwerk Würgassen ca. 1 600 m³ endlagerfähige radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung und ca. 270 m³ nichtwärmeentwickelnde Rohabfälle bzw. Reststoffe. Es befindet sich ca. 185 m³ wärmeentwickelnder Core-Schrott im Brennelement-Lagerbecken, der dort abklingt und noch weiter verarbeitet wird. Die radioaktiven Reststoffe werden zur Dekontamination in die Forschungszentren Karlsruhe oder Jülich, zum Hochdruckverpressen und zum Betonieren zur Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS), zum Einschmelzen zur Siempelkamp Nukleartechnik GmbH und zum Verbrennen nach Studsvik (Södermanlands län, Schweden) gebracht.
2. Juni 2995. Gegenüber dem Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen als atomrechtliche Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde erklärt Preussen Elektra am die Absicht, das abgeschaltete Atomkraftwerk Würgassen aus wirtschaftlichen Gründen stillzulegen.
April 1996. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace protestiert gegen den Abtransport der Brennelemente aus dem stillgelegten Atomkraftwerk in die französische Wiederaufarbeitungsanlage La Hague und befestigt eine Stahlkiste an den Werksgleisen der Eisenbahn. Ihrer Meinung nach ist dieser Transport unnötig und gefährdet die Bevölkerung. Die Brennelemente sollen im Atomkraftwerk bleiben, bis es ein fertiges Endlager gibt. Der Abtransport der Castorbehälter wird so 11 Tage verzögert.
14. April 1997. Das AKW wird endgültig stillgelegt. Für die Stadt Beverungen ist dies finanziell ein erheblicher Verlust, weil sie während des Betriebs des Kraftwerkes Gewerbesteuereinnahmen in Millionenhöhe erhielt. Während der Laufzeit wurden 72.922 GWh Strom erzeugt.
Ursprünglich war ein Betrieb bis zum Jahr 2010 geplant. Bis Ende 1994 werden vom Atomkraftwerk Würgassen etwa 270 Tonnen bestrahlter Brennelemente an die französische Wiederaufarbeitungsgesellschaft Cogema geliefert worden.
2000. E.on Kernkraft wird als Nachfolgegesellschaft von PreussenElektra Eigentümer von Würgassen.
22. Februar 2007. In einem Vorgarten im Ortsgebiet von Lauenförde werden 110 Gramm angereichertes Uran gefunden. Der Eigentümer des Gartens hat die zuständigen Behörden über Jahre hinweg über das radioaktive Material in Kenntnis gesetzt, ist jedoch nicht ernst genommen worden. Der Mann war nach Angaben seines Anwalts in psychiatrischer Behandlung. Die nicht beschossenen Pellets stammen wahrscheinlich aus dem ehemaligen Siemens-Werk in Hanau.
Bei dem Material handelt es sich um 14 Pellets zu je 7,8 Gramm Uran mit 3,7-prozentiger Anreicherung, wie sie für die Herstellung von Brennstäben verwendet wird. Nach Angaben des Mannes hat dieser die Pellets 1991 von einem Bekannten erhalten und diese im Jahr 1992 selbst vergraben. Der Bekannte soll die Pellets wiederum aus der 1995 stillgelegten MOX-Brennelementefabrik der Firma Siemens in Hanau entwendet haben. Durch den Diebstahl und dessen Offenlegung habe er auf die mangelhafte Sicherheitslage in der Fabrik aufmerksam machen wollen.
Die Nähe des Fundortes zum Atomkraftwerk Würgassen und die Tatsache, dass der Mann dort zeitweise als Reinigungskraft tätig war, heizt Spekulationen an, das Material könnte von dort stammen. Dem steht entgegen, dass nach Angaben des Kraftwerksbetreibers, die von den Behörden bestätigt werden, niemals Pellets in der gefundenen Zusammensetzung in Würgassen eingesetzt wurden. Hingegen entspricht sie genau dem Typ, der in Hanau verarbeitet wurde, was die Angaben des Mannes stützt, auch wenn bisher nicht aufgeklärt werden konnte, auf welchem Wege die Pellets aus der Fabrik geschmuggelt werden konnten.
März 2013. Ein Specher des Wirtschaftsministeriums von Nordrhein-Westfalen bestätigt, dass nun geplant ist, einen Teil der Bauschuttabfälle in Herne bei der Firma Sita Remediation behandeln und lagern zu lassen.
Bis Sommer 2014. Das AKW wird 17 Jahre lang für mehr als eine Milliarde Euro rückgebaut, entkernt und von radioaktiver Strahlung befreit. Von 455.000 Tonnen Rückbaumasse fallen etwa 5.000 Tonnen radioaktiver Abfall an. Es sind fast 50 Unternehmen mit insgesamt 440 Mitarbeitern mit dem Rückbau beschäftigt, davon 128 Mitarbeiter der E.ON-Gruppe und Personal des Atomkraftwerkes. Der Bauschutt wird auf den Deponien Wetro oder Gröbern in Sachsen eingelagert
Ein Abriss der verbliebenen Gebäude ist noch nicht möglich, weil sich auf dem Gelände ein Zwischenlager für den schwach- und mittelradioaktiven Abfall befindet. Die Gebäude könnten zu einem Erdgaskraftwerk umgebaut werden. Aufgrund von Planungsunsicherheiten bezüglich der Endlagerung radioaktiver Abfälle wird sich der endgültige Abbau der Gebäude des ehemaligen Kernkraftwerks jedoch voraussichtlich „noch um viele Jahre verzögern“.
Atomkraftwerke in Deutschland
BASF, Biblis, Borken, Brokdorf, Brunsbüttel, Cuxhaven, Emden, Emsland, Grafenrheinfeld, Greifswald, Grohnde, Großwelzheim, Gundremmingen, Hamm, Hamm-Uentrop, Isar, Jülich, Kahl, Kalkar, Kirschgartshausen, Krümmel, KNK Karlsruhe, Lingen, MFZR Karlsruhe, Mühlheim-Kärlich, Neckarwestheim, Neupotz, Niederaichbach, Obrigheim, Pfaffenhofen, Philippsburg, Rheinsberg, Stade, Stendal, Unterweser, Vahnum, Würgassen, Wyhl
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