Montag, 18. Februar 2019

Brandanschlag von Solingen 1993

Demo nach dem Brandanschlag von Solingen
Am 29. Mai 1993 wurde in Solingen (Nordrhein-Westfalen) ein Brandanschlag verübt. 5 Menschen starben. Weitere 17 Menschen erlitten zum Teil bleibende Verletzungen.

Die auch als Mordanschlag von Solingen bezeichnete Tat hatte einen rechtsextremen Hintergrund. Er war im Jahr 1993 der Höhepunkt einer Welle fremdenfeindlicher, rassistischer Anschläge auf Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland. Der Anschlag löste heftige Reaktionen aus. Im Laufe des Jahres wurden 300 weitere ausländerfeindliche Anschläge verübt.

Vier junge Deutsche wurden wegen Mordes an fünf Menschen und wegen versuchten Mordes an 14 Menschen verurteilt. Sie haben ihre Haftstrafen abgesessen. Sie waren die Täter. Die Täter hinter den Tätern aber waren Politiker, die gehetzt haben.

In den Niederlanden wurden damals aus Entsetzen über die Tat Plakate mit folgender Aufschrift aufgestellt: „Solingen, 29. Mai 1993. Dit nooit meer.” (Übersetzung: Das nie wieder!) Nach einem Aufruf eines niederländischen Radiosenders wurden mehrere Millionen Postkarten mit der Aufschrift "Ik ben woedend!" (Übersetzung: Ich bin wütend!) an Helmut Kohl (Bundeskanzler von Deutschland) geschickt. Die Aktion wurde in der Folge heftig in beiden Ländern diskutiert.

Spruchbänder auf der gemeinsamen Demo
Familie Genç bewohnt heute ein mit Versicherungs- und Spendengeldern finanziertes Haus, das mit Überwachungskameras ausgestattet ist. Einigen Familienangehörigen wurde es ermöglicht, Jobs bei der Stadt anzunehmen. Die Überlebenden leiden bis heute unter den Folgen der Gräueltaten und haben Angst vor weiteren Übergriffen. Psychologische und medizinische Betreuung ist nach wie vor nötig.

Die Mutter, Großmutter und Tante der Ermordeten, Mevlüde Genç, bemühte sich in den Jahren nach den Morden immer wieder um die Versöhnung zwischen der Bevölkerung Solingens und ihrer Familie beziehungsweise der türkischstämmigen Bevölkerung in der Stadt. Mevlüde Genç, die mittlerweile einen deutschen Pass hat, wurde dafür das Bundesverdienstkreuz verliehen.

In Bezug auf die Ermittlungen zu den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bekundete Mevlüde Genç ihr Vertrauen zum deutschen Staat.

Nach dem Anschlag gründen 15 Solinger den Verein "SOS Rassismus". Per Telefonkette waren schnell 30, 40 Bürger alarmiert und auf den Beinen, sobald sich irgendwo in der Stadt Neonazis zusammenrotteten oder ein Übergriff gemeldet wurde. Das "Nottelefon" wurde 10 Jahre nach dem Anschlag wieder eingestellt weil es "nicht mehr nötig" war.

Geschichte

1970. Durmuş Genç kommt als Gastarbeiter nach Solingen. Dort arbeitet er in einer Textilfabrik.

Ende der 1980er Jahre. Die politische Kampagne gegen angebliche "Asylmissbraucher" beginnt. Das Wort wird das beliebteste in Wahlkämpfen. Die CDU/CSU hämmert den Leuten in den Kopf, dass 95 Prozent aller Flüchtlinge "Wirtschaftsflüchtlinge" und "Simulanten" seien. CDU-Generalsekretär Volker Rühe verschickt Pakete mit einschlägigen Muster-Presseerklärungen an alle CDU-Kreisverbände. Die politische Sprache betreibt Mobilmachung; "Fluchtwege" müssen abgeschnitten, "Abschreckung" muss praktiziert werden.

Die Politik tut so, als gebe es ein verseuchtes Zimmer im Haus der Verfassung. Nach der Grundgesetzänderung wird gerufen wie nach dem Kammerjäger. Der Berliner CDU-Fraktionschef spricht von Ausländern, die "bettelnd, betrügend, ja messerstechend durch die Straßen ziehen" und dann "nur weil sie das Wort Asyl rufen", dem Steuerzahler sieben Jahre lang auf der Tasche lägen. Edmund Stoiber, CSU, möchte die deutsche Bevölkerung vor einer "totalen Überforderung" schützen,. Seine rigorose Flüchtlingspolitik sei, behauptete er, ein Beitrag zur Bekämpfung von Rechtsradikalen.

Das Asylgrundrecht wird zum Symbol für die angebliche Überfremdung gemacht und die Zerschlagung des Symbols angekündigt. Nicht von einer rechtsradikalen politischen Partei Alternative für Deutschland (AfD - die gibt es noch nicht), sondern von CSU, CDU, SPD und Mövenpickpartei.

Anfang 1990er Jahre. Hunderttausende Menschen flüchten vor dem Krieg in Jugoslawien, die Grenze zum Osten ist gefallen. Von der steigenden Zahl der Asylsuchenden und Aussiedler profitieren rechtsradikale Parteien und ziehen in mehrere Landesparlamente ein.

September 1991. Im sächsischen Hoyerswerda greifen Neonazis und Sympathisanten ein Flüchtlingsheim mit Stahlkugeln und Brandsätzen an.

Oktober 1991. In Hünxe in Nordrhein-Westfalen werfen Neonazis Brandsätze durch ein Fenster einer Flüchtlingsunterkunft. Zwei libanesische Mädchen und ihre Großmutter werden lebensgefährlich verletzt.

August 1992. In Rostock-Lichtenhagen belagern Rechtsextreme und Randalierer die Zentrale Asylbewerber-Aufnahmestelle von Mecklenburg-Vorpommern und stecken sie in Brand.

November 1992. In Mölln in Schleswig-Holstein werfen Rechtsextreme Brandsätze in zwei Häuser. Zwei türkische Mädchen und ihre Großmutter kommen ums Leben.

25. Mai 1993. Das Asylgrundrecht wird trotz massiver Blockaden und Demonstrationen im Bundestag in Bonn geändert. Der Bundestag streicht mit den Stimmen der CDU/CSU, dem Großteil der Stimmen der FDP und einer Stimmenmehrheit der SPD den Artikel 16 des Grundgesetzes. An die Stelle des schlichten Satzes "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" tritt ein neuer, umständlicher Artikel 16 a, eine Miniaturisierung des Asylrechts. Damit solle, so heißt es, den Rechtsextremisten "das Wasser abgegraben" und die Gewalt gegen Ausländer eingedämmt werden.

Herbert Schnoor, nordrhein-westfälischer Innenminister zur Solingen-Zeit, bekennt später, dass die Politik "eine Art Beihilfe zur Stärkung der Gewalt" geleistet habe: "Wenn junge Menschen erleben, wie Politik über Flüchtlinge und Ausländer spricht, dann muss man sich nicht wundern, wenn Jugendliche diese verbale Gewalt in brutale Gewalt übersetzen." Und der Bundesinnenminister Manfred Kanther gesteht, dass die politische Debatte "Hitzegrade" erzeugt habe.

28. Mai 1993. Im Vereinsheim einer Kleingartenanlage im Süden Solingens findet in der Tatnacht ein Polterabend statt.  Die drei Skinheads Felix Köhnen (Arztsohn), Markus G. (Die Mutter ist tot, der Vater Alkoholiker) und Christian Buchholz (Sohn eines Handwerkers) sind angetrunken. Es gibt es Streit bei dem es um rassistische Beleidigungen gegenüber einer schwarzen Partybesucherin geht. Auf den Streit folgen Schläge. Daraufhin werden die drei von dem Wirt und zwei anwesenden türkischen Bürgern aus dem Vereinsheim verwiesen.

Sie begegnen kurz darauf dem 16-jährigen Gleichgesinnten Christian R. und planen die Tat. Auch Christian R. hat in dieser Nacht schlechte Laune. Die "Türkenkinder" aus dem Nachbarhaus nervten ihn, wie er später bei der Polizei aussagt. Am frühen Abend hat er schon angekündigt, das "Türkenhaus" anzünden zu wollen. Gegenüber zwei Freunden prahlte er, in zwei Wochen wäre es soweit. Skinheads aus Düsseldorf und Hilden würden ihm dabei helfen.

Drei der späteren Attentäter gingen in die 1987 gegründete Kampfsportschule „Hak Pao“ (Schwarzer Panther), die in der rechten Szene bekannt ist. Es erscheint wahrscheinlich, dass die späteren Mörder hier radikalisiert wurden.

Betreiber ist Bernd Schmitt (Jg. 1944), ein Fachmann für den Kampf Mann gegen Mann. Nach dem Anschlag werden zentnerweise Unterlagen aus der Solinger Kampfsportschule geschleppt und in einen Mercedes-Lieferwagen gepackt. Der Wagen wird von der Polizei zwar gestoppt, darf dann aber weiterfahren. Erst einen Monat später wird das geheime Archiv der „Hak Pao“, 55.000 Blatt, gehoben. Dabei stoßen die Ermittler auf Lageskizzen von Wohnungen ausländischer Bürger und Anleitungen zum Bau von Molotow Cocktails.

Vor Ort betreibt Schmitt zudem einen „Deutschen Hochleistungs-Kampfkunstverband“ (DHKKV), eine Vorfeldorganisation der bundesweit aktiven Neonazi-Truppe „Nationalistische Front“ (NF).

Im Juni 1994, 13 Monate nach dem Brandanschlag in Solingen, wird Bernd Schmitt als V-Mann enttarnt. Schmitt war nach offizieller Darstellung seit dem 3. April 1992 als V-Mann für das Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen im Einsatz. Zuvor diente er ab dem 25. März Gelegenheitsinformant. Die NF und deren Planungen zum Aufbau eines militanten „Nationalen Einsatzkommandos“ (NEK) waren Zielobjekte des V-Mannes.

Gespannt waren die Verfassungsschützer vor allem auf Informationen zu einer Organisation namens Nationalistische Front. Deren Vorsitzender, Meinolf Schönborn, hatte zu jener Zeit ein Konzept für Eingreiftruppen aus Neonazis unter Schmitts Führung entwickelt, die Schutzaufgaben bei Veranstaltungen und Demonstrationen übernehmen sollten. Schmitt sollte berichten, wie die rechtsextremen Rollkommandos aufgebaut wurden.

Die Enthüllung bingt den Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnoor (SPD), unter Druck. Schnoor sagt, Schmitt sei immer "nachrichtenehrlich" gewesen, bedauert im Landtag aber den Verlust eines wichtigen Informanten. Und er betont: Weder der Verfassungsschutz noch Schmitt hätten zur Radikalisierung von rechten Jugendlichen beigetragen. Man könne "das Böse hinter den Tätern nicht dingfest" machen.

Erwin Dähler von der Antifaschistischen Initiative Wuppertal sieht das anders. Ihn ärgert, dass es keine Konsequenzen für die Menschen gibt, die nicht verhinderten, dass die Brandstifter "indoktriniert" wurden – in der Kampfsportgruppe Hak Pao. Er nennt den Innenminister, den Verfassungsschutzchef und den örtlichen Polizeipräsidenten.

Hinter dem Haus von Familie Genc in einem kleinen Park sollen die Neonazis vor dem Anschlag ihren Treffpunkt gehabt haben.

Untere Wernerstraße 81 in Solingen
29. Mai 1993. Die vier Personen beschaffen sich danach Benzin und dringen kurz vor 2 Uhr in den Hausflur der Familie Genç ein. Der 16-jährige wohnt im Haus gegenüber. Dort übergießen sie eine dort befindliche Truhe mit Benzin, formen eine Zeitung zu einer Fackel und zünden den Brandsatz an.

Nach zehn Minuten steht das ganze Haus in Flammen. 19 Menschen befinden sich in der verhängnisvollen Nacht in dem Haus. Das Feuer überrascht die meisten im Schlaf.

Um 1:42 Uhr geht bei der Feuerwehr ein Anruf ein. Fünf Minuten später sind die Rettungskräfte da. Sie sehen Gürsün Inçe mit ihrer Tochter im Arm auf einer Fensterbank im Giebel des Hauses hocken. Noch ehe die Feuerwehrmänner ein Rettungskissen aufpumpen können, springt die 27-Jährige mit ihrer dreijährigen Tochter Güldane Genç in den Armen aus dem Fenster. Das Kind überlebt den Sturz mit schweren Verletzungen. Die Mutter nicht. Hatice Genc (19) stirbt an einem Hitzeschock.

Schon bei den Löscharbeiten wird deutlich: Das Feuer in Solingen wurde gelegt. Im Eingang finden die Ermittler Spuren von Benzin.

Bei dem Anschlag auf ein Zweifamilienhaus, das von Menschen türkischer Abstammung bewohnt war, sterben fünf Menschen.
Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und der 15 Jahre alte Bekir Genç werden mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Bekir Genç erleidet schwerste Verbrennungen und unterzieht sich nach dem Anschlag insgesamt 30 Operationen und Hauttransplantationen. Der 15-jährige Sohn wird so schwer verletzt, dass er nie mehr ein normales Leben führen kann. 13 weitere Familienmitglieder erleiden zum Teil lebensgefährliche Verletzungen.

Gedenktafel für die Opfer

30. Mai 1993. "Hitlers Höllenbrut hat wieder zugeschlagen" - für die türkischen Zeitungen gibt es heute nur ein Thema. Am Abend demonstrieren rund 3.000 überwiegend nationalistische Türken in der Innenstadt von Solingen. Gegen die Türken demonstrieren wiederum Kurden.  Mehrere Fenster von Geschäften und Autos werden zerstört. Die Polizeikräfte werden durch Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) und der GSG 9 verstärkt. 62 Demonstranten werden kurzzeitig festgenommen.

Ende Mai/Anfang Juni 1993. Rechte Gruppen und Autonome fallen in Solingen ein. Bewohner von Solingen erinnern sich vor allem an die Krawalle nach dem Anschlag. Viele meiden die Innenstadt, einige werden im Umland wegen ihres Solinger Kennzeichens abgedrängt und beleidigt. Die Randalierer zerstören Schaufenster und Autos, plündern Geschäfte oder prügeln aufeinander ein. Die Polizei verhängt Ausgangssperren.

1. Juni 1993. Für die Angehörigen der Opfer stellen die Ford-Werke in Köln insgesamt 100.000 DM zur Verfügung.

Spuren der Brandruine hinter dem Zaun
2. Juni 1993. Der Bertelsmann-Konzern stellt den Angehörigen der Opfer eine Million DM an Spenden zur Verfügung und übergibt den Betrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung unter Johannes Rau treuhänderisch.

4. Juni 1993. Die Polizei und Beamte der Sonderkommission SOLE des Bundeskriminalamtes ansässig beim Polizeipräsidium Wuppertal nehmen drei Männer im Alter zwischen 16 und 23 Jahren aus der Solinger Neonazi-Szene aufgrund eines vorläufigen Haftbefehls wegen Mordes und schwerer Brandstiftung fest. Die Tatverdächtigen werden zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe geflogen. Zwei Ermittlungsrichter der Bundesanwaltschaft führen im Beisein von Vertretern des Bundeskriminalamtes die Vernehmungen.

Auch der vierte Tatverdächtige wird nach den ersten Festnahmen ermittelt.

5. Juni 1993. Nach rund zehnstündigen Vernehmungen haben die Ermittlungsbehörden die Tat größtenteils aufgeklärt. Die Ermittlungsbehörden machten allerdings auch Fehler, so wurden Gesprächsprotokolle nicht geführt, Brandschutt nicht gesichert und keine Fingerabdrücke genommen.

Die fünf Opfer des Brandanschlags werden nahe Taşova in der Türkei beigesetzt. An der Trauerfeier nehmen zahlreiche türkische Regierungsmitglieder teil und auch Bundesaußenminister Klaus Kinkel als Vertreter Deutschlands. Richard von Weizsäcker (Bundespräsident) sagt, es gehe darum, den türkischen Bürgern in Deutschland das Gefühl zu nehmen, Bürger zweiter Klasse zu sein.

Helmut Kohl (Bundeskanzler von Deutschland) weigert sich, an der Trauerfeier teilzunehmen. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel verweist auf die "weiß Gott anderen wichtigen Termine" des Kanzlers. Man wolle schließlich nicht "in Beileidstourismus ausbrechen".

Zwei der festgenommenen Männer entsprechen dem Täterbild: Rechtsextreme Jugendliche mit zerrüttetem Elternhaus, frühzeitig gewaltauffällig, der braunen Szene zugehörig. Doch die zwei anderen Tatverdächtigen passen nicht in das übliche Raster: Einer wuchs in einer Solinger Handwerksfamilie auf, der vierte entstammte einer Arztfamilie. Diese beiden bestreiten bis heute vehement, etwas mit dem Anschlag zu tun gehabt zu haben.

Bei einer angemeldeten Demonstration in Solingen kommt es erneut zu gewaltsamen Ausschreitungen. Aus Angst vor Krawallen kommen statt der von dem Veranstalter geplanten 50.000 Demonstranten nur etwa 12.000. Bereits zu Beginn fliegen Steine in die Menge. Rivalisierende türkische Gruppen und deutsche Autonome geraten aneinander. Offenbar angestachelt wird die Auseinandersetzungen aus dem Umfeld der Grauen Wölfe. Bei diesen Ausschreitungen geraten auch nationalistische Türken und linksgerichtete Kurden aneinander. Zudem kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Gruppierungen und der Polizei. Auch deutsche Autonome sind an den Krawallen beteiligt. Vier Beteiligte und 15 Polizisten werden verletzt. Es entsteht Sachschaden im Wert mehrerer Millionen D-Mark. Auch in anderen Städten, beispielsweise in Bremen und Hamburg, kommt es zu Krawallen. Auf dem Veranstaltungspodium spricht u.a. Ulle Huth vom Verein Solinger Künstler.

Mahnmal in Solingen
3. März 1994. Mit einem Ratsbeschluss wird das Versprechen für die Familie Genç, dass im Zentrum der Stadt ein Platz gefunden wird, um der fünf Ermordeten zu gedenken abgesegnet. Das Mahnmal wird dann jedoch 2,5 Kilometer außerhalb des Zentrums auf dem Gelände des Mildred-Scheel-Berufskollegs, auf das Hatice Genç geht, errichtet. Dies wird damit begründet, dass es den sozialen Frieden in der Stadtmitte nicht gefährden solle.

13. April 1994. Knapp ein Jahr nach der Tat beginnt am Oberlandesgericht Düsseldorf der Prozess gegen die vier Angeklagten.

29. Mai 1994.  10.000 Menschen kommen am ersten Jahrestag des Brandanschlags zur Einweihung. Initiiert wurde das Mahnmal von Heinz Siering, dem Leiter der Solinger Jugendhilfe-Werkstatt. Gestaltet wurde es nach einem Entwurf der Künstlerin und Kunsttherapeutin Sabine Mertens: Zwei große Metallfiguren – ein symbolisches Elternpaar – umrahmt von einem Wall aus handgroßen Metallringen, zerreißen ein Hakenkreuz.

Jeder Ring – inzwischen sind es mehr als 5.000 – trägt einen Namen. Bei der Einweihung wurden die ersten fünf Ringe durch die Menge gegeben, sie trugen die Namen der fünf ermordeten Frauen und Kinder. Auf der aus Ringen bestehenden Umfassung ist eine Metallplatte befestigt:

Tafel am Mahnmal

13. Oktober 1995. Nach 127 Verhandlungstagen werden alle vier Angeklagten vom sechsten Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf unter dem Vorsitz des Richters Wolfgang Steffen zu langjährigen Haft- oder Jugendstrafen verurteilt. 285 Zeugen und Sachverständige wurden in dem Verfahren befragt.
  • Markus G. (24 Jahre) - er gestand als einziger der Angeklagten die Tat, wird wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt.
  • Felix K. (18 Jahre), Christian R. (19 Jahre) und Christian B. (22 Jahre) werden zur höchsten Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt.
14. Oktober 1995.Wir wenden uns heute, einen Tag nach dem Urteil, an alle jungen Leute in Deutschland und in der Türkei … Der Richter hat das gestern richtig als sinnlose Tat bezeichnet, die auf Rassenhass beruht … Dabei haben wir Jugendlichen, egal, ob wir Deutsche oder Türken sind, egal, welche Hautfarbe wir haben oder aus welchem Land wir kommen, gemeinsame Interessen. … Wir müssen uns gemeinsam für Verbesserungen einsetzen. Hass spaltet nur und führt im schlimmsten Fall zu solchen schrecklichen und sinnlosen Taten. … So etwas sollte sich nie mehr wiederholen.

– Fadime und Bekir Genç: In: Metin Gür, Alaverdi Turhan: Die Solingen-Akte

1996. Mevlüde Genç (Mutter, Schwiegermutter und Großmutter der Opfer) wird für ihr Wirken mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

1997. Nach Revisionen wird das Urteil vom Bundesgerichtshof bestätigt.

Hülyaplatz in Frankfurt-Bockenheim
1998. Die Stadt Solingen legt gemeinsam mit dem Verein „SOS Rassismus” Terrassen an und pflanzt darauf auf Wunsch der Familie Genç fünf junge Kastanien.

In Frankfurt-Bockenheim wird im selben Jahr zum Gedenken an Hülya Genç und die anderen Opfer der kleine Platz zwischen Friesengasse und Kleiner Seestraße als Hülya-Platz benannt. Von einer Bürgerinitiative wird auf diesem Platz eine mannshohe Nachbildung des Hammering Man aufgestellt, die hier auf ein Hakenkreuz einschlägt. Mittels einer Kurbel und einer Fahrradkette kann man diese schlagende Bewegung selbst ausführen. Nach wiederholtem Vandalismus an dieser und einer Ersatzskulptur wird der Einbau von Gedenkplatten im Boden in Erwägung gezogen.

Mai 2000. Das Landgericht Wuppertal verurteilt die vier Täter zur Zahlung von 250.000 Mark Schmerzensgeld an Bekir Genç. Das Urteil kann jedoch zeitweise nicht vollstreckt werden, da zwei Täter noch in Haft sitzen. Christian B. gibt an, kein Geld zu haben, und Felix K., der vierte Täter, ist nicht erreichbar.

2003. Durch einen Pressebericht wird bekannt, dass das Meldeamt die Herausgabe der Anschrift von Felix Köhnen mit der Begründung, dass der Haftentlassene eine schützenswerte Person sei, verweigerte.

29. Mai 2003. Johannes Rau (Bundespräsident) sagt anlässlich des 10. Jahrestags:

"Das Bewegendste ist für mich die Haltung der Familie Genç. Da war kein Hass, kein Abschied, sondern stets der Ruf nach Versöhnung zwischen den Menschen und den Völkern. Das ist das positive Signal nach der schrecklichen Tat."

September 2005. Christian R., der einzige der vier Brandstifter, der sein Geständnis aufrecht erhielt,  wird vom Landgericht Dortmund zu einer Haftstrafe von vier Monaten ohne Bewährung verurteilt. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass  bei einer Neonazi-Demonstration in Hamm zweimal den Hitlergruß gezeigt hat.

26. Mai 2008. Kurz vor dem 15. Jahrestag des Anschlags, wird im Solinger Theater- und Konzerthaus im Rahmen einer Gedenkveranstaltung erstmals der mit 10.000 Euro dotierte Genç-Preis für friedliches Miteinander vergeben. Er wurde von der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung mit ihrem Gründer und Ideengeber Yaşar Bilgin gestiftet und soll zukünftig alle zwei Jahre vergeben werden.

Die ersten Preisträger sind der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma und Kamil Kaplan. Schramma erhält die Auszeichnung für seine Rolle als Vermittler im Streit um den Bau der Kölner Großmoschee. Kaplan verlor bei der Brandkatastrophe von Ludwigshafen im Februar 2008 mehrere Angehörige. Trotz des großen Verlusts habe er „viel beachtete Worte des Ausgleichs, der Besonnenheit, der Verständigung und Versöhnung gefunden, damit inmitten einer aufgeheizten Atmosphäre ein starkes Zeichen gesetzt und einen überaus positiven Einfluss auf die öffentliche Stimmungslage genommen“, heißt es in der Begründung der Jury.

Die vier Täter sind inzwischen wieder aus der Haft entlassen worden, zwei von ihnen vorzeitig wegen guter Führung. Drei sollen von Hartz IV leben.

29. Mai 2008. Am 15. Jahrestag besucht Armin Laschet (CDU-Integrationsminister) Mercimek, das türkische Heimatdorf der Familie: Er sagt dort: „Wir erinnern an diese Mordtat, weil sie nicht vergessen werden darf. Der Brandanschlag von Solingen war der schlimmste fremdenfeindliche Anschlag in der Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen“.

September 2012. In der Solinger Innenstadt wird ein Platz in direkter Nachbarschaft des Solinger Rathauses nach der Heimatstadt der Familie Genç Mercimek-Platz benannt.

Juni 2013. Anlässlich des 20. Jahrestags wird der Genç-Preis zum zweiten Mal verliehen. Preisträger sind Sebastian Edathy, der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses, sowie Tülin Özüdogru, deren Vater Abdurrahim im Jahre 2001 zum Opfer der NSU-Morde wurde.

Markus G. erklärt in mehreren Interviews zum 20. Jahrestag des Brandanschlags, dass er sich vom rechten Gedankengut distanzieren würde und er die Tat nicht begangen habe.

23. April 2018. Zum 25. Jahrestag des fremdenfeindlichen Brandanschlags wird der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in Solingen bei der Gedenkfeier eine Ansprache halten. Sein Auftritt fällt in die Zeit des Wahlkampfs in der Türkei wo am 24. Juni 2018 Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden sollen. In Deutschland werden Vermutungen laut, dass die Gedenkfeier zu Wahlkampfzwecken missbraucht werden könnte.

Der ursprüngliche Plan einer Rede Çavuşoğlus im Düsseldorfer Landtag scheitert allerdings am Widerstand von SPD und Grünen: Der Minister des autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat noch vor einem Jahr in Hamburg betont, Menschen mit türkischem Migrationshintergrund blieben ohne Rücksicht auf ihre faktische Staatsbürgerschaft „Volksgenossen“ – und zeigte dabei den „Wolfsgruß“ der rechtsextremen Grauen Wölfe. Sozialdemokraten und Grüne fürchteten deshalb, dass Çavuşoğlu die Rede im Landesparlament für Wahlkampfpropaganda nutzen könne: Die Türkei steht in knapp vier Wochen vor den wichtigsten Wahlen seit Jahrzehnten, mit denen Erdoğan den Umbau des Landes in ein autoritäres Präsidialsystem vollenden will.

9. Mai 2018. Mevlüde Genç, die bei dem Mordanschlag in Solingen zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hat, sagt: "Wir sind Bürger dieses Landes. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn eine Persönlichkeit, die den deutschen Staat vertritt, zu uns kommen würde und bei der Gedenkfeier unseren Schmerz teilt." Es sei ihr auch wichtig, dass der türkische Staat wieder einen Repräsentanten schicke. "Ich möchte meiner getöteten Kinder gedenken. Politisches will ich nicht dabei haben."

25. Mai 2018. Ministerpräsident Armin Laschet schreibt in einem Gastbeitrag für die "Westdeutsche Zeitung": „Nur wegen der Anwesenheit des – auf ausdrücklichen Wunsch der Familie eingeladenen – türkischen Außenministers ein gemeinsames Gedenken im Landtag zu verhindern, ist beschämend. Wenigstens im Angesicht dieser Tragödie und der menschlichen Großtat von Frau Genc; einmal das parteipolitische Kalkül hinter sich zulassen – das wäre die Chance zum Zusammenhalt gerade mit Blick auf die polarisierte Debatte der letzten Jahre gewesen.“

Derweil fordert die rechtsradikale Partei Alternative für Deutschland (AfD) eine „ideologiefreie Aufklärung des Solinger Brandanschlags“. In dem Text, gezeichnet von Tobias Montag, stellvertretender Sprecher des Kreisverbandes Solingen, wird die Zurechnungs- und Handlungsfähigkeit der Täter relativiert, weil sie sich im „vollalkoholisierten Zustand“ befunden hätten. Gleichzeitig wird bezweifelt, dass sich der Tathergang so abgespielt habe, wie er unter anderem vom Nachrichtenmagazin „Spiegel“ geschildert worden ist. Dem Vater der türkischen Großfamilie wird in der Meldung zudem unterstellt, er habe die weiblichen Familienmitglieder eingeschlossen, wenn er das Haus verlassen habe. Als Quelle zitiert der AfD-Bezirksverband „Ereignisberichte von Anwohnern“. Auch Mevlüde Genc, die bei dem Brandanschlag zwei Kinder, zwei Enkel und eine Nichte verlor, erwähnen die Schreiber der AfD. Ihr unterstellen sie indirekt Ladendiebstahl und werfen ihr vor, der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein.

28. Mai 2018. Die Türkei äußert sich 25 Jahre nach dem tödlichen Brandanschlag von Solingen besorgt über die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Das türkische Außenministerium erklärt anlässlich des 25. Jahrestags des Anschlags, es sehe "mit Sorge, dass Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit zunehmen, obwohl ein Vierteljahrhundert seit der Tragödie von Solingen vergangen ist". Das Ministerium fordert "effektive Maßnahmen" gegen Rassismus, Diskriminierung und Islamfeindlichkeit und mahnt deutsche Politiker und Medien, eine "zurückhaltende Wortwahl" zu benutzen.

Denkmal mit Blumenschmuck am 25. Jahrestag
29. Mai 2018. 25 Jahre nach dem fremdenfeindlichen Brandanschlag in Solingen zeigt sich Bundesaußenminister Heiko Maas besorgt darüber, dass Türken in Deutschland noch immer angefeindet werden. "Es ist beschämend, dass auch heute noch viele, die selbst oder deren Eltern und Großeltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, Diskriminierungen im Alltag erfahren".

Türkische Zuwanderer seien in Deutschland nicht nur willkommen, sondern ein Teil Deutschlands. "Das Andenken an die Toten von Solingen bleibt ein Auftrag für uns alle - nicht zu vergessen, nicht wegzusehen und nicht zu schweigen. Und jeden Tag aufs Neue für Toleranz, Vielfalt und Mitmenschlichkeit in unserem Land und in der Welt einzutreten."

Bundesjustizministerin Katarina Barley warnt wie ihr SPD-Parteikollege Maas vor Fremdenhass und Rassismus. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagt sie: "Es ist beschämend, dass auch 25 Jahre danach Menschen in Deutschland immer noch wegen ihrer Herkunft, Religion oder ihrer sexuellen Orientierung bedroht und angegriffen werden." Damit dürften sich die Politik und die gesamte Gesellschaft nicht abfinden.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ruft dazu auf, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus entschieden zu bekämpfen. Der Tag des Anschlags stehe auch für eine fortdauernde Aufgabe: „Er verdeutlicht die Verpflichtung unseres Gemeinwesens und unserer Institutionen, alle Bürgerinnen und Bürger zu schützen, gleich welcher Herkunft.“

Zum 25. Jahrestag des Brandanschlags finden heute Gedenkveranstaltungen in der Düsseldorfer Staatskanzlei und nahe dem Tatort in Solingen statt.

Ministerpräsident Armin Laschet sagt in seiner Eröffnungsrede bei der Gedenkfeier in Düsseldorf, dass der Brandanschlag das „schrecklichste Ereignis in der Geschichte Nordrhein-Westfalens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ gewesen sei. „Für das, was vor 25 Jahren geschehen ist, gibt es keine Entschuldigung“, sagt Laschet. Er erinnert daran, dass 1993 die politische Rhetorik sehr scharf gewesen sei.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt als Rednerin teil. Sie erinnert daran, dass der Anschlag keine Einzeltat, sondern der Tiefpunkt einer Reihe schrecklicher Ereignisse gewesen sei. Die CDU-Chefin nennt Rostock-Lichtenhagen und die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). „Geradezu fassungslos macht es mich noch heute, dass damals Tausende Menschen den Tätern zuschauten, sie sogar anfeuerten und applaudierten“, sagt Merkel. "Solche Gewalttaten sind beschämend. Sie sind eine Schande für unser Land."

Die Kanzlerin mahnt, dass rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut auch heute Verbreitung finde. "Zu oft werden die Grenzen der Meinungsfreiheit sehr kalkuliert ausgetestet und Tabubrüche leichtfertig als politisches Instrument eingesetzt", sagt Merkel, ohne dabei eine Partei beim Namen zu nennen. "Das ist ein Spiel mit dem Feuer." Wer Gewalt mit Worten säe, nehme zumindest billigend in Kauf, dass auch Gewalt geerntet würde.

Sie nimmt indirekt auch Bezug zum NSU-Skandal und sagt, dass Behörden sich zum Teil gravierende Fehler geleistet hätten. „Dafür können wir als Bundesregierung nur um Verzeihung bitten“, sagt Merkel.

Ministerpräsident Armin Laschet führt Mevlüde Genç auf das Podium. Sie trägt ein buntes Kopftuch und erzählt von ihrem großen Schmerz seit dem Brandanschlag, wie sie nachts geweint und tagsüber ihre überlebenden Kinder angelächelt habe, damit der „Hass keinen Eingang in ihre Herzen findet“.

Sie sagt, der Schmerz nehme mit dem Alter zu. „In einer hellen Welt lebe ich im Dunkeln“, übersetzt die Dolmetscherin vom Türkischen ins Deutsche. Sie hege niemandem gegenüber Hass, „ausgenommen vier Personen, die mein Heim zum Grab gemacht haben“. Die vier verurteilten rechtsradikalen Brandstifter haben nie um Entschuldigung gebeten. Aber das will Mevlüde Genc auch nicht.

Der türkische Außenminister Cavusoglu hält eine ausgewogene Rede und konzentriert sich ganz auf Solingen. Die Sorgen derer, die einen unlauteren Wahlkampf befürchteten, bestätigen sich nicht. Cavusoglu lobt mehrfach die Anwesenheit der Bundeskanzlerin und betont die anhaltende Betroffenheit nach dem Brandanschlag vor 25 Jahren: „Auch alle unsere deutschen Freunde spüren diesen Schmerz.“ Er wolle mit seiner Teilnahme eine „Botschaft des Zusammenhalts“ aussenden.

Cavusoglu sagt, dass Millionen Türken Deutschland zu ihrer zweiten Heimat gemacht hätten und sich wünschten, gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Vielfalt sollte als etwas Positives gesehen werden. Er schlägt den Bogen von Solingen zur Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU): Man habe große Erwartungen an den bald zu Ende gehenden NSU-Prozess. „Wir wünschen uns, dass im Verfahren ein die Gesellschaft zufriedenstellendes Urteil getroffen wird“, betont Cavusoglu.

Bühne der Gedenkveranstaltung am 25. Jahrestag
An der Veranstaltung am Nachmittag in Solingen am Mildred-Scheel-Berufskolleg nehmen etwa 1000 Menschen teil. Die Reden des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu und von Bundesaußenminister Heiko Maas müssen jedoch wegen eines Unwetters abgesagt werden. Die Teilnehmer werden zum Verlassen des Veranstaltungsortes aufgefordert.

Nur die Rede des Solinger Oberbürgermeisters Tim Kurzbach bleibt im Gedächtnis. Er warnt vor wachsender Fremdenfeindlichkeit. In Deutschland und bei den europäischen Nachbarn sei „das Leitbild einer Gesellschaft, die sich zu Vielgestaltigkeit und Integration bekennt“, nicht überall vorangekommen. Man müsse Sorgen haben, „dass sich Geschichte wiederholen kann“, sagt der SPD-Politiker. „Wieder sollen die sogenannten Fremden die Gefahr sein für alles Mögliche in unserem Land.“

Der Oberbürgermeister beschränkt sich nicht auf seine Stadt. Im Bundestag sitze seit wenigen Monaten eine Partei, fuhr er fort, „für die Hass, Ausgrenzung und der bewusste Bruch des respektvollen Miteinanders geradezu der Markenkern sind“ – mit Blick auf die AfD-Fraktion im Berliner Reichstagsgebäude. Eine gefährliche Verrohung der politischen Sprache sei heute – wie auch in den 1990er-Jahren vor den Ausschreitungen von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen – zu beobachten.

Kurzbach nennt es eine Verpflichtung, daran zu erinnern, „was passiert, wenn sich verantwortungslose Worte verselbstständigen“. Er spricht über die Situation in Solingen vor 25 Jahren. Damals habe niemand einen solchen Anschlag vorhersehen können. Es habe kein „Klima des Hasses gegeben“.

Die Tat zeige, dass das ein Trugschluss war. Dass der Hass sehr wohl in vielen Köpfen steckte. Ein Spaziergang zum Tatort reicht, um zu spüren, dass sich daran nicht viel geändert hat. Es liegt mehr in der Luft als man ahnt. Das ist die Lehre von Solingen.

Christian Blex (AfD) fällt mit fremdenfeindlichen Aussagen auf. Er schreibt auf Twitter: "Für die Nachwelt: Armin Laschets "Botschafter der Integration" trägt Kopftuch und spricht nach 48 Jahren in Deutschland trotz deutscher Staatsbürgerschaft kaum ein Wort deutsch." Gemeint ist damit Mevlüde Genc.

2. Juni 2018. Claudia Roth (Die Grünen / Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages) bekommt Morddrohungen "aus den Reihen von PEGIDA und AfD" und dem nationalistisch-religiösen Teil der türkischstämmigen Wählerschaft in Deutschland. Bei der Gedenkfeier in Solingen wurde sie nach eigenen Angaben von Anhängern der BIG-Partei „heftig angepöbelt“. Dass sie verschwinden soll, sei noch der „harmloseste Ausruf“ gewesen.

"Wer von rechtsautoritären Bewegungen gehasst wird, kann nicht alles falsch gemacht haben", fügt sie hinzu. Umso mehr gelte "Gesicht zeigen. Hingehen. Haltung beweisen. Sich nicht unterkriegen lassen."

Roth räumt ein, dass sich ein Teil der türkischstämmigen Deutschen abgeschottet hätten. „Das schwierige Verhältnis zwischen den jungen Türken, die Erdogan hinterherlaufen, aber in Deutschland alle Freiheiten genießen, und dem liberalen Teil der türkischstämmigen Community müssen wir ernst nehmen.“ Es gebe einen Rückzug einiger „in die vermeintliche heile Welt des konservativen Islam oder der türkischen Nation.“

Bilder aus Wikimedia Commons
Demo nach dem Brandanschlag von Solingen, Lizenz: Creative-Commons „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland“, Urheber: Sir James at de.wikipedia
Spruchbänder auf der gemeinsamen Demo, Lizenz: Creative-Commons „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland“, Urheber: Sir James at de.wikipedia
Untere Wernerstraße 81 in Solingen, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, Urheber: Frank Vincentz
Spuren der Brandruine hinter dem Zaun, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, Urheber: Frank Vincentz
Hülyaplatz in Frankfurt-Bockenheim, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, Urheber: Peng
Gedenktafel für die Opfer, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, Urheber:  Frank Vincentz
Mahnmal in Solingen, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, Urheber: Frank Vincentz
Tafel am Mahnmal, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, Urheber: Frank Vincentz
Bühne der Gedenkveranstaltung am 25. Jahrestag, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, Urheber: StagiaireMGIMO
Denkmal mit Blumenschmuck am 25. Jahrestag, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, Urheber: StagiaireMGIMO

Quellen
30.05.2018, Welt, BRANDANSCHLAG, Die Opfer von Solingen haben wir in ihrer Not alleingelassen
29.05.2018, taz, 25 Jahre Anschlag von Solingen, Der kurze Weg vom Wort zum Mord
29.05.2018, Welt, RECHTSEXTREME TAT, Wo es damals brannte, glimmt immer noch der Hass
29.05.2018, Welt, SOLINGEN-GEDENKEN, Im Leid gibt es eine unerwartete Annäherung
29.05.2018, Sueddeutsche, Brandanschlag von Solingen, "Rechtsextremismus gehört keineswegs der Vergangenheit an"
29.05.2018, taz, Gedenken Brandanschlag von Solingen, Warum Erdoğans Minister reden darf
29.05.2018, Zeit, Angela Merkel, "Solche Gewalttaten sind eine Schande für unser Land"
29.05.2018, Zeit, Anschlag in Solingen, Jugendliche Mörder und ein V-Mann
29.05.2018, Zeit, Rechtsextremismus, Das Feuer überraschte sie im Schlaf
29.05.2018, taz, Brandanschlag in Solingen, Die Erinnerung fällt schwer
29.05.2018, Tagesspiegel, 25 Jahre Anschlag von Solingen, Auf der Strecke geblieben ist der Anstand
29.05.2013, Sueddeutsche, Solingen vor 20 Jahren, "Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch"