![]() |
| Windscale Pile 1 und Pile 2 |
Die britischen Atomreaktoren Pile 1 und Pile 2 befinden sich auf dem Gelände des Atomkomplex Sellafield (früher Windscale), etwa 400 Kilometer entfernt nordwestlich von London an der an der Irischen See in Nordwestengland in der Region West Cumbria. Der River Ehen mündet am Rande der Anlage ins Meer und der River Calder fließt durch das Gebiet der Anlage bevor er dort ebenfalls ins Meer mündet. Die 6 Quadratkilometer große Anlage liegt beim Dorf Seascale im Distrikt Allerdale.
Die beiden luftgekühlten, graphitmoderierten Windscale-Reaktoren wurden in den 1940er und 1950er Jahren als erste britische Produktionsanlagen für atomwaffenfähiges Plutonium-239 errichtet.
Geschichte
1946. Die USA bemühen sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Durch den in diesem Jahr beschlossenen MacMahon Act wird anderen Ländern der Zugang zu Atomtechnologie verwehrt. Die ehemaligen Alliierten treiben jedoch nationale Atomtechnologieprogramme voran, so dass Großbritannien ab 1952 über eigene Atomwaffen verfügt, die Sowjetunion ab 1949.
Um eine britische Bombe zu bauen, hat die Produktion von Plutonium höchste Priorität. Als Standort wird das Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik in Windscale an der irischen See (Cumbria, Nord-West England) ausgewählt. Dieses verfügt über genügend Kühlwasser aus den Wastwater- und Ennerdale-Seen und befindet sich weit weg von Gebieten mit dichterer Besiedlung.
1946. Bei der Planung der Reaktoren weiss man nur, dass sich der Graphitmoderator im Reaktor bei niedrigen Temperaturen ausdehnt, was als Wigner-Effekt (nach Eugene Paul Wigner) bezeichnet wird. Sonst ist jedoch kaum etwas über das Verhalten von Graphit unter Neutronenbeschuss bekannt.
Herbst 1947. Großbritannien beginnt trotz der Nachkriegssparmaßnahmen mit dem Bau des luftgekühlten, graphitmoderierten Atomreaktors Pile 1 mit einer thermischen Leistung von 180 MW. Wenig später beginnt der Bau des baugleichen Atomreaktors Pile 2. Es handelt sich um die ersten britische Produktionsanlagen für atomwaffenfähiges Plutonium-239. Bei den Bemühungen mit der US-amerikanischen Atomwaffenentwicklung gleichzuziehen wird kaum auf Umwelt und Gesundheit geachtet. Der radioaktive Abfall wird in die Irische See geleitet.
Der Reaktorkern besteht aus 1.996 Tonnen Graphitblöcken mit 3.444 horizontalen Kanälen, die in einem achteckigen Bereich in der Mitte des Kerns angeordnet sind. Der Kern hat einen Durchmesser von 15 Metern, ist 7,5 Meter dick und von 2,7 m dickem armiertem Beton als Strahlungsabschirmung umgeben. Als Brennstoff dient metallisches Natururan, das in 28,5 cm lange, 2,5 cm dicke Aluminiumkapseln eingeschlossen ist. Zur besseren Wärmeabfuhr ist jede Kapsel mit radialen Kühlrippen versehen. In jeden Kanal des Reaktors werden von der Vorderseite her 21 solcher Brennelemente geladen. Außerdem sind weitere Kanäle für Isotopenkapseln und Steuerstäbe vorhanden. Die Isotopenkapseln enthalten Lithium und Magnesium. Aus dem Lithium wird durch Neutroneneinfang Tritium erbrütet, welches für die britische Wasserstoffbombe dringend benötigt wird.
Verbrauchte Brennelemente werden mit Hilfe von Stahlstangen nach hinten aus dem Kern hinausgeschoben, wo sie in Kübel in einem Wasserbassin fallen und über einen durch einen mit meterdicken Betonwänden abgeschirmten Wasserkanal in das gemeinsam für Pile 1 und 2 genutzte Abklingbecken B29 transportiert werden. Die Kühlung erfolgt durch zwei Gebläsehäuser, die durch Schächte mit der Vorderseite des Reaktorkerns verbunden sind. Die Abluft wird über einen 125 m hohen Schornstein an die Umwelt abgegeben, der oben mit Filtern versehen ist, um radioaktive Partikel zurückzuhalten. Der gesamte Reaktoraufbau hat eine Masse von etwa 57.000 Tonnen.
1948. Das Abklingbecken B29 wird zwischen den Reaktoren Pile 1 und Pile 2 angelegt.
Oktober 1950. Pile 1 wird in Betrieb genommen.
Juni 1951. Pile 2 wird in Betrieb genommen. Beide Reaktoren zusammen produzierten pro Jahr ca. 35 kg waffentaugliches Plutonium-239. Zugleich wird die erste Wiederaufarbeitungsanlage B204 errichtet, um das Plutonium zu extrahieren.
1951 bis 1957. In der Aufbereitungsanlage B23 werden etwa 385 kg Plutonium erzeugt.
1952. Zwei Jahre nach Inbetriebnahme des Pile 1 wird festgestellt, dass es immer wieder zu spontanen Temperaturanstiegen im Kern kommt, was schließlich darauf zurückgeführt wird, dass sich der Graphit des Moderators, wenn er sich durch Neutronenbeschuss ausdehnt, Wigner-Energie speichert, die später unkontrollierbar spontan freigesetzt wird. Da höhere Temperaturen wegen der Feuergefahr sowohl für den luftgekühlten Graphit als auch für die Isotopen- und Brennelemente gefährlich sind, beginnt man 1952, den Kern in regelmäßigen Abständen auszuheizen, um die Wigner-Energie abzubauen. Dazu wird die Kerntemperatur über die normale Betriebstemperatur hinaus langsam erhöht. Bis zum Oktober 1957 wird dieser Prozess fünfzehn Mal erfolgreich an Pile 1 und 2 durchgeführt. Er gestaltete sich aber zunehmend schwieriger und erfordert manchmal ein erneutes Aufheizen des Kerns, um die Wigner-Energie freizusetzen.
Februar 1952. Die ersten Plutoniumstücke werden in die Aldermaston Fabrik bei Oxford geliefert.
Oktober 1952. Die erste britische Atombombe Hurricane explodiert vor der Küste Australiens.
Die Katastrophe von Windscale Pile 1
Im Atomreaktor Windscale Pile 1 der nur als Brutreaktor zur Erzeugung von Plutonium-239 für Atombomben benutzt wurde bricht am 10. Oktober 1957 beim neunten "Ausheizen" des Kerns um die Wigner-Energie freizusetzen Feuer aus. Es kommt zu einem der schwersten Atomunfälle vor der Katastrophe von Tschernobyl.
Bei dem Brand wird eine erhebliche Menge radioaktiver Stoffe freigesetzt. Während des Brandes kommt es zu zwei Freisetzungen, zunächst durch das brennende Uran, später durch den Wasserdampf beim Löschvorgang. Eine Wolke mit radioaktivem Material verbreitet sich über Großbritannien und das europäische Festland. Die Bevölkerung wird jedoch erst am Tag nach dem Ende des Brandes gewarnt, die Milch von 17 umliegenden Farmen eingesammelt und in die Irische See verklappt. Danach wird zeitweilig die Milcherzeugung in der Region verboten.
Nach den neuesten Untersuchungen wird abgeschätzt, dass durch den Brand unter anderem 900 bis 3700 TBq Jod-131, 280 bis 6300 TBq Tellur-132, 90 bis 350 TBq Cäsium-137, etwa 0,2 bis 3,1 TBq Strontium-90 und 14 bis 110 TBq Polonium-210 sowie 8 bis 80 PBq Xeonon-133 freigesetzt wurden.
Die Auswirkungen der freigesetzten Radioaktivität waren bisher nur ungenügend bekannt. Laut einem vorsichtigen britischen Bericht sollen mindestens 40 Personen infolge des Unfalls gestorben sein. Andere von mehr als 70 Untersuchungsberichten gehen von etwa 100 Todesopfern aus. Heutige Modellrechnungen kommen zu dem Schluss dass infolge des damaligen Unfalls alleine durch Lungenkrebs rund 240 Personen starben.
Auf der heute gültigen siebenstufigen Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) wird dieser Unfall als Ernster Unfall (Stufe 5) eingestuft, also als Unfall mit Auswirkungen außerhalb des Betriebsgeländes und schweren Schäden am Reaktorkern (wie beispielsweise der von Three Mile Island).
7. Oktober 1957, 19 Uhr 25. Die Techniker beginnen im Atomreaktor Pile 1 mit dem "Ausheizvorgang" um die Wigner-Energie freizusetzen. Der Vorgang soll nach drei Tagen abgeschlossen sein. Dazu wird der heruntergefahrene Reaktor bei abgeschalteten Ventilatoren bei 250 °C stabilisiert. Durch die freigesetzte Wigner-Energie soll die Temperatur auf den vorgesehenen Höchstwert von 350 °C steigen.
8. Oktober 1957. Die Anzeigen deuten darauf hin, dass die vorgesehene Temperatur nicht erreicht wurde. Da das Ausheizen bei der Planung nicht berücksichtigt wurde, fehlen in beiden Reaktoren Temperaturmessstellen, um den noch nicht vollständig verstandenen Ausheizvorgang ausreichend überwachen zu können. Das Bedienpersonal ist daher auf Erfahrungswerte und die für den Normalbetrieb vorgesehenen Temperaturmessstellen angewiesen. Obwohl einige Messstellen steigende Temperatur anzeigen, entscheidet der Operator um 10:30 Uhr, den Reaktor weiter anzuheizen. Um 11:05 Uhr kommt es dann zu einem sprunghaften Temperaturanstieg um 80 °C, ansonsten bleibt über die nächsten eineinhalb Tage alles ruhig, obwohl der Graphit des Reaktorkerns vermutlich schon brennt.
9. Oktober 1957, 22 Uhr 15. Die gemessenen Temperaturen sind mit zum Teil über 400 °C immer noch zu hoch.
10. Oktober 1957, 5 Uhr 40. Messgeräte zeigen am Schornstein und auf dem Betriebsgelände an, dass der Reaktor Radioaktivität freisetzt. Die Strahlung an dem 120 Meter hohen Abluftkamin über dem Reaktor ist stark angestiegen. Außerdem steigt die Kerntemperatur stark an. Zuerst geht man noch davon aus, dass eine mit Lithium und Magnesium gefüllte Isotopenkapsel geborsten ist und versucht, das Problem mit einem ferngesteuerten Messgerät zu lokalisieren, dessen Betätigungsgestänge sich durch die Hitze aber bereits verklemmt hat
10. Oktober 1957, 15 Uhr 00. Erst jetzt alarmiert die Bedienmannschaft die Fabrikleitung.
10. Oktober 1957, 16 Uhr 30. Weil bisher keine Anweisungen ergingen, öffnet ein Techniker im Schutzanzug einen Schacht an der Vorderseite des Reaktorkerns und sieht die rot glühenden Brennelemente. Es ist klar, dass der Reaktor gekühlt werden muss. Die Ventilatoren können zur Kühlung jedoch nicht verwendet werden, weil sie dem Graphitbrand noch zusätzlich Sauerstoff liefern würden und wegen der durch das Feuer beschädigten Brennelemente und Isotopenkapseln noch mehr radioaktive Stoffe an die Umwelt freisetzten würden. Wasser kann auch nicht verwendet werden, weil es mit dem geschmolzenen und brennenden Uran, den anderen Metallen und dem Graphit zu Wasserstoff und Ethin reagieren würde, was eine Explosion auslösen würde. Deshalb versucht man, nachdem ein Tankwagen im nahegelegenen Kernkraftwerk Calder Hall eingetroffen ist, den Brand mit 25 t flüssigem Kohlendioxid zu löschen, was aber keinerlei Wirkung zeigt
10. Oktober 1957, 20 Uhr 30. Durch die Inspektionsluken im Dach des Reaktorkerns wird beobachtet, dass blaue Flammen aus dem Kern schießen.
11. Oktober 1957, 1 Uhr 53. Zwischenzeitlich ist eine Temperatur von 1.300°C errreicht. Auf dem Fabrikgelände wird Alarm ausgelöst. Obwohl schon den ganzen Tag lang Radioaktivität freigesetzt wurde, wird die Öffentlichkeit immer noch nicht informiert. Zum Glück der Betreiber weht der Wind die radioaktive Wolke aus Jod 131, Plutonium, Cäsium und Strontium auf die Irische See hinaus.
11. Oktober 1957, 8 Uhr 55. Trotz der Gefahr einer Knallgasexplosion, die den gesamten Reaktor zerstören könnte und das radioaktive Material des Kerns großräumig freisetzten könnte, versucht man schließlich, den Brand mit Wasser zu bekämpfen, was jedoch nicht den gewünschten Erfolg bringt. Über die Inspektionsluken stellen die Techniker fest, dass das Wasser wirkungslos durch die Kanäle des Kerns schießt.
11. Oktober 1957, 9 Uhr 56. Erst als der Wasserdruck reduziert wird, fließt das Wasser in den Kern hinein und kühlt ihn ab, die dabei entstehende riesige Dampfwolke setzt jedoch weitere Mengen an Radioaktivität frei.
11. Oktober 1957, 10 Uhr 10. Das Feuer erlischt erst, nachdem auch die Luftzufuhr zum Reaktor unterbrochen wird.
12. Oktober 1957, 10 Uhr 10. Die Werkfeuerwehr beendet die Wasserzufuhr. Um den Reaktor hat sich aus den 9.000 m³ Löschwasser ein radioaktiver See gesammelt.
12. Oktober 1957. Milch aus einem 500 km² großen Gebiet, die einen Grenzwert von 3.700 Bq überschreitet, wird eingesammelt und vernichtet. Obwohl auch Milch weiter entfernter Farmen durch Jod-131 kontaminiert wurde, wird sie verkauft. Aufzeichnungen darüber werden von der Regierung unter Verschluss gehalten, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Insgesamt werden etwa 2 Millionen Liter Jod-131-kontaminierte Milch ins Meer entsorgt.
1958-1961. Das Gelände rund um Pile 1 wird dekontaminiert und die unversehrten Brennelemente aus dem Kern entfernt. Soweit möglich werden die Steuer- und Kontrollstäbe in den zerstörten Kern eingefahren und die Zusatzeinrichtungen am Reaktor abmontiert. Eine 80 cm dicke Betonschicht wird über die mechanischen Durchführungen in der Strahlungsabschirmung gelegt, um den Kern zu versiegeln. In den etwa 20 Prozent des Kerns, die zerstört wurden, befinden sich noch etwa 6700 durch das Feuer beschädigte Brennelemente und 1700 Isotopenkapseln. Weiterhin werden die Gebläse und Filter der Luftkühlung aus den Gebäuden B3, B4, B13 und B14 entfernt und die Luftschächte zu den Reaktoren zugemauert.
Auch Pile 2 wird aus Sicherheitsgründen stillgelegt und die Brennelemente entfernt.
1960. Das Becken B30 wird angelegt.
Bis Mitte 1980er Jahre. Der immer noch aktive Kern von Pile 1 wird lediglich überwacht.
Ende der 1980er Jahre. Die Planungen zur ersten Phase des Abbaus von Pile 1 beginnen.
1993-1999. Die erste Phase des Abbaus von Pile 1 wird durchgeführt. Die Abschirmung um den Reaktor wird abgedichtet. Zu- und Abluftschächte werden geschlossen und Wasserkanäle zum Abklingbecken B29 in denen "aus Versehen" noch 210 Brennelemente gefunden wurden versiegelt. Zudem wird der radioaktive Schlamm aus den durch den Brand stark kontaminierten Wasserkanälen zum Abklingbecken entfernt.
Auch der Abluftkamin von Pile 2 wird im Zuge dieser Arbeiten entfernt.
2005. Die Strahlung durch den Brand von Pile 1 ist auf etwa 1% des Wertes nach dem Brand abgesunken.
2007. Ein neuentwickelter Roboter soll den Reaktor Pile 1 Stück für Stück abbauen. Kosten 500 Millionen Pfund. Dauer etwa 20 Jahre. Die Gesamtkosten für den Rückbau der Anlagen und die Abfallbeseitigung werden auf 61 Mrd. Euro geschätzt.
Bis 2012. Während der zweiten Abbauphase soll das Abklingbecken B29 und das 1960 angelegte Becken B30, die beide mit radioaktivem Schlamm kontaminiert sind, gereinigt werden. Weil das Wasser nicht einfach abgelassen werden kann, sollen Unterwasserroboter zum Einsatz kommen, die den Schlamm in Behälter füllen und die Wände der Becken und Kanäle reinigen sollen.
Der Reaktorkern soll vollständig abgebaut und für die sichere Endlagerung vorbereitet werden. Die zweite Phase beinhaltet auch den Abbau des Schornsteins von Pile 1, den Abbau des Graphitmoderators und der verbliebenen 17 Tonnen an Radionukliden.
Bilder aus Wikimedia Commons
Windscale Pile 1 und Pile 2, Lizenz: Creative-Commons-Lizenzen „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“, „2.5 generisch“, „2.0 generisch“ und „1.0 generisch“, Urheber: HereToHelp / Cjesch
Quellen
