Sonntag, 24. August 2014

Stresstest für deutsche Atomkraftwerke

16. Mai 2011. Norbert Röttgen (CDU - Bundesumweltminister) stellt die Ergebnisse der Prüfung aller 17 deutschen Atomkraftwerke durch die Reaktorsicherheitskommission (RSK) gemeinsam mit Rudolf Wieland (Vorsitzender der RSK) vor. Der Bericht umfasst 116 Seiten. Die Ergebnisse sollen nach Beginn der Katastrophe von Fukushima am 11. März 2011 wesentliche Grundlage für die Entscheidungen der Bundesregierung zum Abschalten von Atomkraftwerken im Rahmen der geplanten Energiewende sein.
Am Bericht waren 8 Prüfteams beteiligt. 46 von 90 Sachverständigen kamen von den Technischen Überwachungsvereinen (TÜV). Dabei haben Mitarbeiter des Bundesumweltministerium bereits im Jahr 2009 festgestellt: "Große Betreibernähe der TÜV beeinträchtigt die Qualität und Unabhängigkeit der Begutachtung." Seit Jahren prüfen immer dieselben TÜVs dieselben Atomkraftwerke - routinemäßig. Wechsel geschehen nur sehr selten. Stellten die TÜVs jetzt große Mängel fest, würden sie sich selbst widersprechen. Zudem wurde der Reaktorsicherheitsbericht ausschließlich nach Daten erstellt, die von den AKW-Betreibern angegeben worden waren. Henrik Paulitz (Mitglied der IPPNW) vergleicht das mit "dem Pkw den man beim TÜV vorfahren würde" um dort den Entwurf eines selbsterstellten Mängelberichts zu überreichen.
Die Stresstests für AKWs enthalten daher nur "Viel Papier, wenig Substanz". Die Kommissionen sind unnütz. Die Ethikkommission genau so wie die RSK. Tag und Nacht sollen sie geprüft haben - dabei hätten sie nur in die vorhandenen Mängellisten gucken müssen.
Laut Sigmar Gabriel (Ex-Bundesumweltminister) dauert es mindestens eineinhalb Jahre, ein Atomkraftwerk wirklich zu überprüfen. Die in seiner Amtszeit als Bundesumweltminister im Jahr 2009 neu entwickelten Kriterien zur Sicherheitsüberprüfung wurden offenbar durch Röttgen unter der Schwarz-Geld-Regierung außer Kraft gesetzt. Die Sicherheit soll deshalb auf Basis eines 30 Jahre alten Katalogs geprüft worden sein.

Grundsätzliche Kriterien

  • Kann die Kühlung der Brennelemente sowohl im Reaktordruckbehälter als auch im Brennelementlagerbecken bei bisher nicht zu erwartenden Ereignissen eingehalten werden kann?
  • Kann die Freisetzung radioaktiver Stoffe begrenzt werden?
  • Welche Reaktionsmöglichkeiten gibt es, wenn die Kühlung ausfällt, es keinen Strom gibt oder Brennelementschäden bis zur Kernschmelze führen?
  • Wie sieht es mit der Notstromversorgung aus?
  • Ist in Notfällen Personal verfügbar?
  • Was ist mit der Wasserstoffbildung und der Explosionsgefahr?
  • Wie geht man vor, wenn das AKW wegen zu hoher Strahlenbelastung nicht mehr betreten werden kann?
Vor allem bei der Kühlung der Brennelemente im Lagerbecken fehlten der Kommission teilweise die nötigen Unterlagen. Was die Kühlung des Reaktors an sich angeht, verfügten aber alle Anlagen über "entsprechende Notfallmaßnahmen", heißt es im Abschlussbericht der Kommission. In einigen neueren Anlagen seien die Notkühlanlagen doppelt gesichert.
Die Kommission fordert eine Erweiterung der gegenwärtigen Konzepte für den Schutz vor Notfällen. So brauche es Katastrophenpläne für den Fall, dass sich ein Kraftwerksgelände wie in Fukushima zunächst nicht mehr erreichen lässt; die Rettung sich also verzögert. Die bisherigen Antworten der AKW-Betreiber ließen noch keine Einschätzung zu, ob diese Pläne ausreichten. So müsse überprüft werden, wie sich etwa nachträglich Wasser in Reaktordruckbehälter einfüllen lässt, ohne dass Menschen verstrahlte Bereiche eines havarierten Kraftwerks betreten müssen. Viele Lehren aus Japan sind noch nicht gezogen.


Erdbeben

  • Bis zu welcher Stärke können die Kraftwerke Beben aushalten, die deutlich über den bisher für Deutschland zu erwartenden Stärken liegen?
  • Wie lassen sich Funktionen bei einem besonders starken Erdbeben erhalten?
  • Was passiert bei Folgeschäden von Erdbeben wie Anstieg oder Absinken des Flusspegels, Brand, Kühlmittelverlust, Überflutung, Zerstörung der Infrastruktur, Beeinträchtigung der Personalverfügbarkeit?
Laut dem Sicherheitsbericht der RSK haben die 17 deutschen AKW genügend Reserven. Auch Erdbeben, die stärker sind als bislang angenommen, könnten sie noch verkraften. Für die Beurteilung deutlich stärkerer Erdbeben fehlten den Experten jedoch die nötigen Nachweise. Ein Tsunami, wie er in Japan die Beherrschung des Störfalls letztlich unmöglich machte, soll ohnehin "für Deutschland praktisch ausgeschlossen" sein.


Hochwasser

  • Welche Schäden können an den Anlagen durch bisher nicht einkalkuliertes Hochwasser entstehen, zum Beispiel wegen Staudammbrüchen, extremer Sturmflut, Tsunamis oder der Auswirkungen von Treibgut?
  • Funktionieren die Notfallmaßnahmen noch, wenn die in der AKW-Auslegung vorgesehene Wasserhöhe überschritten wird?
Laut dem Sicherheitsbericht der RSK gibt es hier überwiegend genügend Reserven. Allerdings wären verschiedene Kraftwerke bei Hochwasser nicht mehr auf dem Landweg zu erreichen. Einige Anlagen liegen auch teilweise nur knapp über dem bisher angenommenen "10.000-jährlichen" Hochwasser. So liegen etwa beim Kernkraftwerk Unterweser die sicherheitstechnisch relevanten Gebäude bei einer Höhe von vier Metern über Normalnull. Wenn der Deich bricht, könnte das Wasser auf 3,95 Meter steigen - im bisher schlimmsten angenommenen Fall.

Flugzeugabsturz und Terrorattacken

  • Funktioniert das Kraftwerk bei einem Absturz eines Verkehrs- oder Militärflugzeugs noch? Dabei sollen unterschiedliche Absturzszenarien berechnet werden, je nach Flugzeugtyp, Geschwindigkeit, Beladung oder Aufprallort.
  • Welche bauliche Reserven hat der Reaktor beim Einschlag eines Flugzeugs noch? Sind die Betonhüllen dick genug?
  • Welche Auswirkungen hätte ein Kerosinbrand?
  • Wie gut ist die räumliche Trennung etwa des Leitstands vom Reaktor?
  • Welche Folgen hätte ein radioaktiven Leck nach einem Absturz?
Laut dem Reaktorsicherheitsbericht ist keiner der 17 deutschen Atomreaktoren gegen Abstürze großer Flugzeuge geschützt. Je nach Baujahr verfügen die Atomkraftwerke über unterschiedlich starke Kuppeln. Um Terrorangriffe auf die Kuppeln zu verhindern, installierten Betreiber einiger Anlagen sogar Vernebelungsmaschinen, etwa in Biblis.
Sieben der AKWs würden nicht einmal dem Aufprall kleinerer Flugzeuge standhalten. Die AKWs Biblis A und B, Philippsburg und  Brunsbüttel haben keinen nachgewiesenen Schutz. Sie könnten nicht einmal dem Aufprall eines Starfighters standhalten.
Die Atomkraftwerke Unterweser, Isar I und Neckarwestheim I bieten gerade mal einen Schutz gegen leichtere Flugzeuge. Die restlichen 10 deutschen AKWs stehen auf Stufe 2. Schutzstufe 3  - ein ausreichender Schutz gegen den Einschlag schwerster Flugzeuge - wird von keinem deutschen AKW erreicht.


Cyberangriffe

  • Welche Notfallmaßnahmen gibt es beim Verlust einzelner Reaktorteile durch eine gezielte lokale Zerstörung von Systemen?
  • Wie leicht kann man von außen auf computerbasierte Steuerungen und Systeme zugreifen, Stichwort Cyberterrorismus?
Die Anfälligkeit für Attacken mit Computerviren wie Stuxnet wird derzeit von den Ländern geprüft. Allerdings ist diese Bedrohung in deutschen Atomkraftwerken überschaubar: Viele von ihnen laufen noch mit der analogen Technik der siebziger und achtziger Jahre.


Ausfall von Kühlung und Notstrom (Station Blackout)

  • Welche Folgen hätte ein stationärer Blackout von mehr als zwei Stunden etwa mit Blick auf die Batteriekapazitäten?
  • Was passiert, wenn der Notstrom länger als 72 Stunden ausfällt, im Hinblick auf die Dieselversorgung, das Öl und das Kühlwasser?
  • Wie lassen sich Dieselaggregate reparieren oder durch alternative Notstromversorgung (Gasturbine, Wasserkraftwerk) ersetzen?
  • Was passiert bei einem Ausfall der Nebenkühlwasserversorgung im Hinblick auf andere Kühlmöglichkeiten wie Brunnenkühlung?
Laut dem Bericht der Reaktorsicherheitskommission ist zumindest bei fünf der älteren Kernkraftwerke derzeit noch unsicher, ob sie den von der RSK überprüften Kriterien genügen, in den übrigen ist dies der Fall. Zum Teil reichten die Kraftstoff- und Ölvorräte aus, um Notstromdiesel auch über mehrere Wochen zu betreiben.


Nicht berücksichtigt ist dass in Fukushima nach den neuen Erkenntnissen bereits das Beben zum Super-GAU geführt hat und kein Tsunami benötigt wird. Während Norbert Röttgen kleinlaut wird wenn es um die Frage geht wann den nun die Dinger endlich abgeschaltet werden und "Geht noch"-AKWs definiert fordert Jürgen Trittin (Die Grünen) die sofortige Abschaltung. Alles eine Frage der Auslegung. Licht aus in Brunsbüttel.
Empfehlungen zur Abschaltung von AKWs werden von der RSK nicht gegeben. Bundesumweltminister Norbert Röttgen lehnt einen sofortigen Atomausstieg ab. Eventuell könnten seiner Aussage nach vier Atomkraftwerke, die nicht einmal den Sicherheitsanforderungen für den Absturz eines kleinen Flugzeugs genügen, abgeschaltet werden. Biblis A und B sowie Brunsbüttel und Philippsburg I hätten "keine nachgewiesene Sicherheitauslegung". Dies werde laut Röttgen bei der politischen Bewertung eine wesentliche Rolle spielen.
Auch nach Vorlage des Berichts bleibt es beim Atom-Moratorium der Bundesregierung bis Mitte Juni. Am 6. Juni soll das neue Atomgesetz, das die Restlaufzeiten der AKW festlegt, vom Kabinett verabschiedet werden.

Quellen