Montag, 20. Januar 2020

Lise Meitner

Lise Meitner
Die  österreichische Atomphysikerin Lise Meitner wurde am 7. November oder 17. November 1878 in Wien als Elise Meitner geboren († 27. Oktober 1968 in Cambridge, Vereinigtes Königreich).

Lise Meitners Werk wird sehr häufig auf die erste, Anfang 1939 zusammen mit Otto Frisch formulierte, physikalisch-theoretische Deutung der Atomspaltung reduziert. Diese war zweifellos von großer Bedeutung für die Entwicklung der militärischen und friedlichen Nutzung der Atomenergie, wurde aber bereits im Herbst 1939 durch eine umfassende Theorie der Atomspaltung (The mechanism of nuclear fission) von Niels Bohr und John Archibald Wheeler ersetzt.

Lise Meitner beobachtete die Verwendung der Atomenergie für Waffensysteme äußerst kritisch. Sie ähnelte darin ihrem langjährigen Partner Otto Hahn und anderen Pionieren der Atomphysik wie etwa Albert Einstein (der jedoch, auf Vorschlag von Leó Szilárd, Präsident Roosevelt dringend zum Bau der US-Atombombe aufforderte). Lise Meitner selbst hat allerdings nie irgendeinen öffentlichen Friedensappell initiiert oder unterzeichnet, obwohl sie mehrfach dazu gebeten wurde, und sich mit persönlichen Äußerungen zu den Themen ‚Atombombe, Atomwaffentests, atomare Verseuchung usw.‘ immer zurückgehalten.

Neben den allgemein bekannten Arbeiten erweiterte Lise Meitner vor allem die Kenntnis über das Wesen der Radioaktivität. Die meisten ihrer Arbeiten waren Untersuchungen der Radioaktivität, insbesondere der Alpha- und Betastrahlung. Dabei konzentrierte sie sich auf die Wirkung dieser Strahlen auf verschiedene Materialien. Sie entdeckte gemeinsam mit Otto Hahn eine Reihe radioaktiver Isotope, darunter Protactinium 231, Actinium C und Thorium D.

Wesentliche Beiträge lieferte Lise Meitner auch zum Verständnis des Aufbaus der Atomkerne sowie der Energiefreisetzung beim radioaktiven Zerfall. Gemeinsam mit Otto Frisch veröffentlichte sie eine Reihe von Werken, die die physikalischen Grundlagen der Atomphysik erklärten und beleuchteten. Besonders in den Jahren nach 1945 konzentrierte sie sich daneben zunehmend auf gesellschaftliche Fragen der Atomphysik und stellte die Entwicklung der Atomwaffen und die militärische Nutzung der Atomenergie in Frage.

Über das Privatleben von Lise Meitner ist wenig bekannt, einigen Aufschluss darüber erhält man immerhin aus den veröffentlichten Briefen an bzw. von Elisabeth Schiemann, Otto Hahn und Max von Laue. Nach Aussagen von Otto Hahn und Max Planck war sie extrem zielgerichtet bei ihren Untersuchungen und arbeitete sehr hart, um Lösungen zu finden und Ergebnisse zu bekommen. Sie liebte die Natur und zog sich zum Nachdenken über theoretische Probleme gerne in den Wald zurück. Neben ihrer Forschung galt ihr persönliches, aber doch sehr zurückhaltendes Engagement vor allem dem Einsatz für den Frieden, der bedachten Nutzung der Atomenergie sowie der Gleichberechtigung der Frauen in den Wissenschaften. Sie selbst sagte einmal:

Ich liebe Physik, ich kann sie mir schwer aus meinem Leben wegdenken. Es ist so eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt. Und ich, die ich so sehr an schlechtem Gewissen leide, bin Physikerin ohne jedes böse Gewissen.

Einen Eindruck von ihrem vertraulichen Verhältnis zu Otto Hahn gibt ein oft zitierter, allerdings unbewiesener Ausspruch Meitners in einem persönlichen Gespräch mit Hahn:

"Hähnchen, von Physik verstehst Du nichts, geh nach oben!"

Bis zu ihrem Tod erhielt Lise Meitner 21 wissenschaftliche (darunter 5 Dr. h. c., 12-mal Mitglied verschiedener Akademien) und öffentliche Auszeichnungen für ihr Werk und ihr Leben. 

Lise Meitner wurde insgesamt 47-mal für den Nobelpreis nominiert, aber eine Auszeichnung blieb ihr versagt. Es gingen von 1937 bis 1964 insgesamt 28 Nominierungen für den Physikpreis ein, in den Jahren 1924 bis 1938 insgesamt 19 Nominierungen für den Chemiepreis. Die Daten nach 1964 sind bislang nicht freigegeben. Unter den Einsendern den Nominierungen findet sich 1948 eine von Otto Hahn, der 1945 für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung mit dem Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944 geehrt wurde. Am häufigsten nominierte sie Max Planck, der sechs Nominierungen für den Chemiepreis und eine für den Physikpreis einsandte. Zu den Unterstützern, die sie mehr als zweimal nominierten, gehörten James Franck (fünf Nominierungen für Physik), Oskar Klein (drei Nominierungen für Physik, eine für Chemie) und Niels Bohr (zwei Nominierungen für Chemie, eine für Physik).

Nach ihr sind zahlreiche öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Straßen in vielen Städten benannt. Die Internationale Astronomische Union ehrte sie durch die Benennung des Asteroiden (6999) Meitner und eines Kraters auf dem Erdmond und auf der Venus.

Der Lise-Meitner-Preis für Kernphysik der Europäischen Physikalischen Gesellschaft ist nach ihr benannt, ferner gibt es einen Lise-Meitner-Literaturpreis.

Zu ihren Doktoranden gehört Rudolf Jaeckel.

Leben

7. November oder 17. November 1878. Lise Meitner wird in Wien Leopoldstadt (2. Wiener Gemeindebezirk) geboren.  Sie war die dritte Tochter des aus der Gegend von Mährisch Weißkirchen stammenden jüdischen Rechtsanwaltes Philipp Meitner (1838–1910) und seiner Frau Hedwig Meitner-Skovran, die 1875 geheiratet hatten. Ihre Eltern wohnen in der Kaiser-Joseph-Straße, der heutigen Heinestraße, auf Nr. 27. Ihr Vater betreibt dort, bevor die Familie an "bessere Adressen" übersiedelt, seine Kanzlei als Hof- und Gerichtsadvokat. Lise Meitner wird protestantisch erzogen.
Lise Meitners Geburtsdatum ist nicht völlig sicher. Im Geburtsregister der Israelitischen Kultusgemeinde Wien steht 17. November 1878, in allen anderen Dokumenten 7. November. Sie selbst feiert ihren Geburtstag am 7. November.
Ihre Schullaufbahn absolviert sie auf einer Bürgerschule, da an den Gymnasien Mädchen nicht zugelassen werden. Nach dem Schulabschluss legt Lise Meitner das Lehrerinnen-Examen in Französisch ab.

1901. Nachdem sie sich im Selbststudium auf die Matura vorbereitet hat und legt sie die Reifeprüfung im Alter von 22 Jahren am Akademischen Gymnasium Wien ab, wo sie als gewählten Beruf die realistischen Studien der Philosophie angibt.
Durch ihr Abschlusszeugnis berechtigt, beginnt Lise Meitner in diesem Jahr ihr Studium der Physik, Mathematik und Philosophie an der Universität Wien. Ihr wichtigster akademischer Lehrer dort wird Ludwig Boltzmann. Bereits in den ersten Jahren beschäftigt sie sich mit Fragestellungen der Radioaktivität. 

1906. Sie wird als zweite Frau an der Wiener Universität im Hauptfach Physik über Prüfung einer Formel Maxwells (veröffentlicht unter dem Titel Wärmeleitung in inhomogenen Körpern) bei Franz-Serafin Exner promoviert. Anschließend bewirbt sie sich bei Marie Curie in Paris, allerdings erfolglos. Das erste Jahr nach ihrer Promotion arbeitet sie am Institut für Theoretische Physik in Wien.

1907. Sie geht zur weiteren wissenschaftlichen Ausbildung nach Berlin, weil sie in Österreich "sehr wenig Aussicht als Mädchen" in der Wissenschaft sieht und vor allem Vorlesungen bei Max Planck hören möchte. Einer ihrer ersten Wege in Berlin führt Lise Meitner daher zu Max Planck an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Sie braucht seine Zustimmung, um seine Vorlesungen besuchen zu können. Dass Planck dem Frauenstudium skeptisch gegenübersteht, weiß Lise Meitner nicht. Die Erlaubnis erhält sie.

28. September 1907. Über den Physiker Heinrich Rubens lernt sie  den Chemiker Otto Hahn kennen, der an einer Zusammenarbeit interessiert ist. Es beginnt eine jahrzehntelange, wissenschaftlich äußerst ergiebige Freundschaft. Sie arbeitet mit Hahn – wie er auch – als "unbezahlter Gast" in dessen Arbeitsraum, einer ehemaligen "Holzwerkstatt", im Chemischen Institut der Berliner Universität in der Hessischen Straße. Da im damaligen Preußen Frauen noch nicht studieren dürfen, muss sie das Gebäude immer durch den Hintereingang betreten und darf die Vorlesungsräume und Experimentierräume der Studenten nicht betreten. Dieses Verbot fällt erst 1909, nachdem das Frauenstudium in Preußen offiziell eingeführt wird.

1908. Sie wird durch die Taufe in die evangelische Kirche aufgenommen.

1909. Otto Hahn entdeckt den radioaktiven Rückstoß und mit der sich daran anschließenden "Rückstoßmethode" finden Hahn und Lise Meitner in den Folgejahren auch diverse radioaktive Nuklide. Durch diese Erfolge macht Lise Meitner sich in der Physik einen Namen und lernt unter anderem Albert Einstein und Marie Curie persönlich kennen.

1912 bis 1915. Sie ist inoffizielle Assistentin bei Max Planck. Sie ist damit die erste Frau in dieser Stellung an einer preußischen Universität.

1912. Die Arbeitsbedingungen von Hahn und Meitner verbessern sich deutlich, nachdem sie ihre Forschungen in der von Hahn aufgebauten Forschungsabteilung Radioaktivität des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem (heutiger Hahn-Meitner-Bau an der Thielallee, Institut der Freien Universität Berlin) fortsetzen können. Meitner arbeitete zunächst unentgeltlich weiter.

1913. Meitner wird wissenschaftliches Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. Zumindest zu Beginn des Ersten Weltkriegs zeigt sie sich ebenso von Kriegsbegeisterung ergriffen wie nahezu alle ihre damaligen Kollegen.

22. April 1915. Hahn überwacht zusammen mit James Franck und Gustav Hertz im Auftrag durch Fritz Haber am persönlich den erstmaligen Einsatz von Chlorgas in der Zweiten Flandernschlacht. Die Giftgaswolke überrascht den Gegner, etwa 5000 Soldaten sterben und weitere etwa 10.000 wurden kampfunfähig verletzt. 

25. April 1915. Meitner schreibt an Hahn: „Ich beglückwünsche Sie zu dem schönen Erfolg bei Ypern“. Meitner ist allerdings selbst nicht an Forschung oder Entwicklung chemischer Kampfstoffe beteiligt. Sie lässt sich zur Röntgenassistentin und Krankenpflegerin ausbilden.

Ab Juli 1915. Sie wird als Röntgenschwester der österreichischen Armee in einem Lazarett an der Ostfront eingesetzt.

Oktober 1916. Sie kehrt sie nach Berlin in das Institut zurück.

Dezember 1916. Sie arbeitet wieder gemeinsam mit Hahn der in diesem Monat nach Berlin versetzt wird.

1917. Hahn und Meitner entdecken das chemische Isotop Protactinium 231, die langlebige Form des Elements Nr. 91, das mit dem schon 1913 von Kasimir Fajans und Oswald Helmuth Göhring entdeckten kurzlebigen Pa-Isotop Brevium in Konkurrenz steht. (Im Jahre 1949 wird das neue Element Nr. 91 von der IUPAC endgültig Protactinium genannt und Hahn und Meitner als alleinige Entdecker bestätigt).

1918. Lise Meitner erhält erstmals eine eigene radiophysikalische Abteilung mit angemessenem Gehalt und wird Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie.

31. Juli 1919. Ihr wird auch die gebührende akademische Anerkennung für ihre wissenschaftlichen Leistungen zuteil: Als einer der ersten Frauen Deutschlands wird ihr der Titel Professor verliehen.

Oktober 1922. Sie habilitiert sich als zweite Frau Deutschlands in Physik und bekommt dadurch das Recht, als Dozentin zu arbeiten. Der Titel ihrer Antrittsvorlesung Die Bedeutung der Radioaktivität für kosmische Prozesse wird von einem schlampigen Journalisten zu "kosmetische Prozesse" umbenannt – eine Frau in der Physik ruft offenbar eine solche Assoziation hervor.

1926. Sie wird außerordentliche Professorin für experimentelle Atomphysik an der Berliner Universität, Deutschlands erste weibliche Professur für Physik. Im selben Jahr wird sie zum Mitglied der Leopoldina gewählt.

1931. Sie zieht in eine geräumige Wohnung in der Direktorenvilla des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Dahlem.

Anfang 1933. Meitner ist wie viele andere noch zuversichtlich, dass die Folgen der Machtübernahme durch die NSDAP glimpflich bleiben würden. Derartige Zeiten des Umbruchs seien zunächst unvermeidlich mit allen möglichen Wirren verbunden, nun komme es auf vernünftige Zurückhaltung an. Hitlers im Radio übertragene Antrittsrede als Reichskanzler habe doch "sehr moderat geklungen, taktvoll und versöhnlich".

Anfang April 1933. Als Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von wird Meitner aufgrund ihrer jüdischen Abstammung die Lehrbefugnis entzogen, sie kann ihre Arbeit an Bestrahlungsexperimenten mit Neutronen lediglich am (nicht staatlichen) Kaiser-Wilhelm-Institut fortsetzen.

März 1938. Als Deutschland Österreich annektiert, wird Lise Meitner deutsche Staatsbürgerin und ist dadurch als gebürtige Jüdin in besonderer Weise gefährdet.

Die legale Ausreise ist nun unmöglich. Eine versuchte Intervention im Innenministerium, um die Ausstellung gültiger deutscher Papiere für sie zu erwirken, schlägt fehl: Gegen eine Ausreise Meitners gebe es politische Bedenken, so die Antwort, "namhafte Juden" dürften Deutschland nicht mehr verlassen.

Otto Hahn hat deshalb große Sorge um ihre Sicherheit und bereitet daher zusammen mit dem niederländischen Chemiker Dirk Coster ihre illegale Ausreise ins Exil vor.

13. Juli 1938. Die Ausreise gelingt. Über die Niederlande und Dänemark kommt sie nach Schweden.

In Dahlem setzen Hahn und Fritz Straßmann indes jenes Experiment fort, an dem sie gemeinsam mit Meitner bis zu ihrer Flucht gearbeitet hatten: der Beschuss von Uran mit Neutronen. Meitner, die das Experiment angestoßen hat und laut Straßmann auch im Exil die "geistig Führende in unserem Team" bleibt, kann sich nur noch brieflich an den Arbeiten beteiligen – Hahn schickt regelmäßig die neuesten Ergebnisse. Er informiert die Physiker in seinem Institut nicht sondern unterrichtet Lise Meitner als einzige über alle Experimente und Ergebnisse brieflich.

Meitner setzt ihre Forschungen bis 1946 am Nobel-Institut so gut es geht fort. Nicht als Kollegin, sondern als Außenseiterin. Leiter des neugebauten Nobel-Instituts für Physik ist der schwedische Physiker und NobelpreisträgerManne Siegbahn (1886-1978).

Meitner-Biografin Ruth Sime schreibt später dazu:

Als Meitner nach Schweden kam, dachte sie, sie würde in Stockholm willkommen sein; sie hoffte in der schwedischen Physik-Gemeinde mitwirken zu können; sie erwartete, dass ihre Expertise zählen würde. Stattdessen fand sie sich in einer feindlichen Arbeitswelt, isoliert und ohne die für ihre Forschung nötigen Ressourcen wieder – eine giftige Situation, die ihren Ruf schädigte und sie um einen Nobelpreis brachte.“

Siegbahn hat davor mühsam "sein" Institut aufgebaut und fürchtet offenbar nun die Konkurrenz der berühmten Kollegin. Entsprechend kühl ist der Empfang:

"Als sie ankam, war nichts so, wie erwartet. Sie hatte einen Raum am Institut, aber weder Ausrüstung noch Unterstützung, sie hatte nicht einmal eigene Schlüssel zu den Werkstätten und Laboren.“ 

Mitte Dezember 1938. Kurz vor Weihnachten stoßen Otto Hahn und Fritz Straßmann mittels äußerst sorgfältiger radiochemischer Methoden auf verblüffende Resultate: Obwohl sie die Erzeugung noch schwererer Elemente als Uran erwarten, ergeben die chemischen Analysen unerwartet leichte Elemente. Beim Beschießen des Uranatoms (92 Protonen) mit verlangsamten Neutronen sind Bariumatome entstanden. Bariumatome besitzen eine Kernladungszahl von 56!

Doch worum kann es sich dabei handeln? Und wie könnten diese Elemente entstanden sein? "

21. Dezember 1938. Hahn schreibt an Meitner: "Wäre es möglich, dass das Uran-239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma? Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Eventuell könntest du etwas ausrechnen und publizieren."

"Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind. Du siehst, Du tust ein gutes Werk, wenn Du einen Ausweg findest".

Weihnachten 1938. Meitner ist zu Besuch bei Freunden in Kungälv, einem Städtchen im Südwesten Schwedens, und wartet auf ihren Neffen. Otto Robert Frisch, wie seine Tante Physiker, hält auch unter den dramatischen Umständen, in denen sich die Familie befindet, an seinem Besuch fest: Nur wenige Wochen zuvor ist sein Vater im Zuge der Novemberpogrome in Wien verhaftet und im KZ Dachau interniert worden.

Bei einem Winterspaziergang diskutieren Meitner und Frisch die Ergebnisse aus Berlin. Unterwegs erweitern sie gedanklich das bisher anerkannte Atomkernmodell, bis ein "Auseinanderfliegen" des Nukleus möglich scheint – das könnte die Ergebnisse aus Berlin erklären.

Zurück im Haus (oder, wie es teils anekdotisch heißt, auf einem Baumstamm auf ihrem Weg) führt sie auf der Basis des "Wassertropfenmodells" von Bethe und Weizsäcker eine Berechnung durch. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der Urankern aufgrund der hohen Zahl sich abstoßender Protonen recht instabil sein muss, wie ein großer Wassertropfen, dessen Oberflächenspannung kaum mehr in der Lage ist, ihn zusammenzuhalten. Ihn mit einem Neutron zu bombardieren, könnte ihn zum Platzen bringen.

Allerdings ergibt sich ein Problem: Nach Aufspaltung des Atomkerns werden die Bruchstücke der Spaltung aufgrund der elektrischen Abstoßungskräfte stark beschleunigt. Dabei nehmen sie sehr viel Energie auf. Mit errechneten 200 Millionen Elektronenvolt ist diese wesentlich größer als jede Energie, die in bis dahin bekannten (chemischen) Atomprozessen entsteht.

Woher stammt diese enorme Energiemenge? An dieser Stelle kommt Einsteins berühmte Formel ins Spiel: Meitner berechnete, dass die beiden Atomkerne plus frei gewordene Neutronen, die aus der Spaltung hervorgehen, in ihrer Summe geringfügig leichter sind als der ursprüngliche Atomkern des Urans. Die Differenz der Masse entspricht mit der Formel E=mc2 genau der Energie von 200 Millionen Elektronenvolt! Die Energie der Kernbruchstücke musste direkt aus der Masse des Uranatomkerns entstammen.

Zum ersten Mal wird ein Prozess bekannt, im welchem sich die von Einstein formulierte Äquivalenz von Energie und Masse direkt offenbart. Damit ist auch klar: Der Atomkern des Urans lässt sich spalten. Kurz darauf wird etwas Weiteres klar (angeregt durch eine Diskussion zwischen Frisch und dem dänischen Physiker Christian Møller): Die frei gewordenen Neutronen können weitere Kerne spalten, was eine Kettenreaktion von Atomkernspaltungen auslösen kann.

6. Januar 1939. Hahns und Straßmanns Arbeit mit den experimentellen Messergebnissen erscheint in den Naturwissenschaften.

16. Januar 1939. Meitner und Frisch schicken ihre Arbeit "Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction" an das internationale Wissenschaftsmagazin Nature, in der sie das von Hahn und Straßmann publizierte Phänomen theoretisch erklären und dafür den Begriff nuclear fission, auf Deutsch Kernspaltung, vorschlagen.

Die beiden Bruchstücke (Atomkerne), die bei der Spaltung entstehen, haben zusammen eine geringere Masse als der ursprüngliche Uranatomkern. Aus dieser Massendifferenz errechnen Lise Meitner und Otto Robert Frisch mit Einsteins Formel E=mc² die bei der Spaltung freiwerdende Energie von etwa 200 Millionen Elektronenvolt pro gespaltenem Atomkern.

In einer späteren Würdigung schreibt Lise Meitner:

"Die Entdeckung der Atomspaltung durch Otto Hahn und Fritz Strassmann hat ein neues Zeitalter in der Geschichte der Menschheit eröffnet. Die dieser Entdeckung zugrunde liegende wissenschaftliche Leistung scheint mir darum so bewundernswert, weil sie ohne jede theoretische Wegweisung auf rein chemischem Weg erreicht worden ist."

Otto Robert Frisch betont gelegentlich, um Mißverständnissen vorzubeugen:

"Diese Entdeckung, die 1944 verdienterweise mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, rief auf der ganzen Welt große Erregung hervor. […] Otto Hahn nannte den Vorgang Zerplatzen, während er heute als Spaltung bezeichnet wird."

11. Februar 1939. Die Arbeit "Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction" erscheint im Nature. Sofort stürzen sich Wissenschaftler aus aller Welt auf die Ergebnisse.

Kurz darauf verfasst Otto Frisch zusammen mit seinem britischen Kollegen Rudolf Peierls ein Memorandum, das die technische Konstruktion einer auf Atomkernspaltung beruhenden Bombe beschreibt.

Dies läßt nun auch Nicht-Physiker aufhorchen. Denn Adolf Hitler hat unterdessen Polen überfallen und den Zweiten Weltkrieg begonnen. Als führende Nation in Forschung und Technik ist das nationalsozialistische Deutschland dazu prädestiniert, zuerst die Atomenergie militärisch zu nutzen und Atombomben herzustellen.

Nach 1940. Die Forschung zur Atomspaltung verschwindet wieder zunehmend aus den wissenschaftlichen Veröffentlichungen: Mehrere Staaten arbeiten an der militärischen Nutzung des Prozesses, natürlich unter größter Geheimhaltung.

Meitner, inzwischen überzeugte Pazifistin, weigert sich, Forschungsaufträge für den Bau einer Atombombe anzunehmen, obwohl sie von den USA innerhalb ihres "Manhattan Projekts" immer wieder dazu aufgefordert wird. Sie zieht es vor, während des Zweiten Weltkrieges in Schweden zu bleiben.

1945. Für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Atomspaltung wird Otto Hahn der Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944 verliehen (überreicht wird er erst 1946). Lise Meitner und Otto Frisch werden dabei nicht berücksichtigt, und auch in den darauf folgenden Jahren wird ihnen diese Ehrung nicht zuteil, obwohl sie von mehreren Physikern – auch von Otto Hahn selbst – für den Physik-Nobelpreis vorgeschlagen werden. Der niederländische Chemiker Dirk Coster, der Lise Meitner im Juli 1938 auf ihrer Flucht begleitet hat, schreibt ihr anlässlich der Nobelpreis-Verleihung:

"Otto Hahn, der Nobelpreis! Er hat ihn sicher verdient. Es ist aber schade, dass ich Sie 1938 aus Berlin entführt habe […] Sonst wären Sie auch dabei gewesen. Was sicher gerechter gewesen wäre."

Carl Friedrich von Weizsäcker, Lise Meitners ehemaliger Assistent, ergänzt später:

"Er hat in der Tat diesen Nobelpreis verdient, hätte ihn auch verdient, ohne dass er diese Entdeckung gemacht hätte. Aber dass für die Kernspaltung ein Nobelpreis fällig war, das war wohl jedermann klar."

Ende November 1945. Lise Meitner, die das „Zerplatzen“ des Urankerns exklusiv aus erster Hand von Otto Hahn erfahren hat und die chemischen Leistungen ihres Kollegen wohl am besten beurteilen kann, sieht jedenfalls die Nobelpreis-Verleihung ganz sachlich. An ihre Freundin B. Broomé-Aminoff schreibt sie:

Hahn hat sicher den Nobelpreis für Chemie voll verdient, da ist wirklich kein Zweifel. Aber ich glaube, dass Frisch und ich etwas nicht Unwesentliches zur Aufklärung des Uranspaltungsprozesses beigetragen haben – wie er zustande kommt und dass er mit einer so großen Energieentwicklung verbunden ist, lag Hahn ganz fern.

1946. Lise Meitner wird zu ihrem Missfallen ein Jahr nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki bei einer Vorlesungsreise in den USA in der US-amerikanischen Presse als "jüdische Mutter der Atombombe" und "Frau des Jahres" bezeichnet. Für sie ist es stets undenkbar, ihre Arbeit in den Dienst einer Massenvernichtungswaffe zu stellen.

Ab 1947. Lise Meitner leitet die Atomphysikalische Abteilung des Physikalischen Instituts der Königlich Technischen Hochschule Stockholm und hat diverse Gastprofessuren an US-amerikanischen Universitäten inne. In diesem Jahr erhält sie den Ehrenpreis der Stadt Wien für Wissenschaft. Sie ist das erste weibliche Mitglied der naturwissenschaftlichen Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften.

1949. Sie bekommt gemeinsam mit Otto Hahn die Max-Planck-Medaille.

1955. In ihrem Artikel Otto Hahn – der Entdecker der Uranspaltung (1955) hebt Lise Meitner explizit hervor:

"Hahns folgenreichste Leistung ist zweifellos die Entdeckung der Uranspaltung, die zur Erschliessung einer fast unerschöpflichen Energiequelle mit sehr eingreifenden Anwendungsmöglichkeiten – zum Guten oder Bösen – geführt hat. Wie sehr Hahn die Beschränkung auf friedliche Ausnutzung der Atomenergie am Herzen liegt, geht aus vielen seiner Reden und Vorträge hervor."

In diesem Jahr erhält sie den ersten "Otto-Hahn-Preis für Chemie und Physik" und wird auswärtiges Mitglied der Royal Society in London, mit dem Recht die Abkürzung 'FMRS' (Foreign Member of the Royal Society) hinter ihrem Namen anzufügen.

1956. Über den Nobelpreis für Hahn schreibt Otto Robert Frisch:

"Das ist auch nach meiner Meinung ganz richtig. Die Entdeckung der Uranspaltung […] war die entscheidende Beobachtung, aus der sich alles weitere sehr rasch entwickeln mußte."

Dennoch wird seit einigen Jahren von der amerikanischen Chemikerin und Feministin Ruth Lewin Sime die Ansicht vertreten, Otto Hahn habe den Nobelpreis nicht oder nicht allein verdient, habe Lise Meitner sogar bewusst ausgebootet, um ihn nicht mit ihr teilen zu müssen. Auch habe er sich ihr gegenüber in der Nachkriegszeit charakterlos verhalten. Diese Unterstellungen entfachen einen Sturm der Empörung unter den mit den historischen Fakten vertrauten Experten, werden aber nach wie vor in der heutigen Literatur immer wieder einmal zitiert und kontrovers diskutiert. Ernst Peter Fischer, Physiker und Wissenschaftshistoriker der Universität Konstanz bezeichnet die Tatsache, dass Lise Meitner keinen Nobelpreis erhielt, sogar drastisch als "Dummheit der schwedischen Akademie". Lise Meitner hätte allerdings dieser simplifizierenden Einschätzung entschieden widersprochen, da sie Vorurteile und einseitige Interpretationen strikt ablehnt.

"Das ist in meinen Augen gerade der große moralische Wert der naturwissenschaftlichen Ausbildung, daß wir lernen müssen, Ehrfurcht vor der Wahrheit zu haben, gleichgültig, ob sie mit unseren Wünschen oder vorgefaßten Meinungen übereinstimmt oder nicht."

Ein deutliches Urteil vertritt auch Berta Karlik, die Leiterin des Instituts für Radiumforschung in Wien, die an ihre Kollegin Erika Cremer schreibt:

"Da ich die Berliner Arbeiten seinerzeit eingehend verfolgt habe, und sowohl mit Hahn wie mit Meitner persönlich so gut bekannt, ja befreundet war, bin ich stets der Auffassung gewesen, dass die Entdeckung der Spaltung einzig und allein Hahn zuzuschreiben ist."

1957. Sie bekommt von Bundespräsident Theodor Heuss die bedeutendste deutsche Auszeichnung, den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste.

1959. In Berlin wird  – in Anwesenheit beider Namensgeber – das „Hahn-Meitner-Institut für Atomforschung“ (HMI) offiziell vom damaligen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt eingeweiht. Zu derartigen Anlässen, aber auch zu privaten Besuchen kommt Lise Meitner stets gerne nach Deutschland. 

8. März 1959. In einem ARD-Fernsehinterview sagt Meitner am 80. Geburtstag von Otto Hahn:

Es gelang mit einer ungewöhnlich guten Chemie von Otto Hahn und Fritz Strassmann, mit einer phantastisch guten Chemie, die zu dieser Zeit wirklich niemand anderer gekonnt hat. Später haben's die Amerikaner gelernt. Aber damals waren wirklich Hahn und Strassmann die einzigen, die das überhaupt machen konnten, weil sie so gute Chemiker waren. Sie haben wirklich mit der Chemie einen physikalischen Prozeß sozusagen nachgewiesen.

Fritz Straßmann erwidert in demselben Interview präzisierend:

Frau Professor Meitner hat vorhin erklärt, dass der Erfolg auf die Chemie zurückzuführen ist. Ich muss sie etwas korrigieren. Denn die Chemie hat lediglich zustande gebracht eine Isolierung der einzelnen Substanzen, aber nicht eine genaue Identifizierung. Um das durchzuführen, war die Methode von Herrn Professor Hahn notwendig. Das ist also sein Verdienst.

So lässt es sich  nicht nehmen eigens von Stockholm nach Göttingen zu reisen, um ihrem Freund Otto Hahn persönlich und öffentlich zu gratulieren:

"Dein 80. Geburtstag wird Dir Beweise aus der ganzen Welt dafür bringen, dass Du als Mensch und Wissenschaftler die Liebe, Verehrung und Dankbarkeit von mindestens zwei Generationen der Menschen erworben hast und ein sehr schwer erreichbares Vorbild der jüngsten Generation bist. Mögest Du das noch lange in Gesundheit und Freude geniessen. – In alter Freundschaft, Deine Lise."

1960. Lise Meitner zieht zu ihrem Neffen Otto Robert Frisch nach Cambridge über, wo sie die letzten acht Jahre ihres Lebens verbringt. Bis zu ihrem Tod mit 89 Jahren macht sie sich für eine friedliche Nutzung der Atomspaltung stark. In diesem Jahr wird ihr die Wilhelm-Exner-Medaille verliehen

1962. Sie bekommt die Dorothea-Schlözer-Medaille der Georg-August-Universität Göttingen. Für alle drei Ehrungen hatte Otto Hahn sie vorgeschlagen.

1966. Sie bekommt sie zusammen mit Otto Hahn und Fritz Straßmann den Enrico-Fermi-Preis der amerikanischen Atomenergie-Kommission (AEC).

1967. Sie wird mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.

27. Oktober 1968. Lise Meitner stirbt, wenige Monate nach Otto Hahn.

1997. Das chemische Element Meitnerium wird nach ihr benannt.

2008. Der ABC-Abwehrschule des Österreichischen Bundesheeres wird der Traditionsname „Lise Meitner“ verliehen. 

2009. Das "Hahn-Meitner-Institut für Atomforschung" (HMI) geht im Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie auf.

12. Juli 2010. In Berlin-Mitte, Hessische Straße 1, wird eine Gedenktafel angebracht.

10. Juli 2014. Im Ehrenhof der Humboldt-Universität zu Berlin wird mit einem Festakt das Meitner-Denkmal enthüllt.

Juni 2016. Sie wird mit einer Büste im Arkadenhof der Universität Wien geehrt.

Bilder aus Wikimedia Commons
Lise Meitner, Lizenz: Public Domain, Urheber: Smithsonian Institution

Quellen