Freitag, 18. September 2015

Karl Wirtz

Forschungsreaktor FR-2
Der deutsche Neutronen- und Reaktorphysiker Karl Eugen Julius Wirtz wurde am 24. April 1910 in Köln geboren ( † 12. Februar 1994).

Er arbeitete während dem Zweiten Weltkrieg am deutschen Uranprojekt mit. In den 1950er Jahren leitete er die Arbeiten am ersten Atomreaktor (Forschungsreaktor FR-2) der in der Bundesrepublik Deutschland nach eigenem Konzept und in eigener Verantwortung gebaut wurde. Zudem war er an der Gründung des Atomforschungszentrums Karlsruhe (heute: Karlsruher Institut für Technologien (KIT)) beteiligt. Daher gilt er als Pionier und Gründervater für friedliche Nutzung der Atomenergie in Deutschland.

Ihm zu Ehren hat die Kerntechnische Gesellschaft e. V. (KTG) den Karl-Wirtz-Preis gestiftet. Er wird alle drei Jahre an junge Wissenschaftler oder Ingenieure für herausragende wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Atomtechnik oder verwandter Disziplinen verliehen. Mit dem Preis soll der Fortschritt von Wissenschaft und Technik auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Atomenergie gefördert werden.

Leben

24. April 1910.  Karl Eugen Julius Wirtz wird in Köln geboren.

1929 bis 1934. Wirtz studiert Physik, Chemie und Mathematik an der Universität Bonn, der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Universität Breslau.

1934. Er wird er bei Clemens Schaefer an der Universität Breslau promoviert. Danach ist er Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Karl Friedrich Bonhoeffer an der Universität Leipzig. Während dieser Zeit wird er Mitglied beim Nationalsozialistischer Lehrerbund (NSLB) aber kein Mitglied der NSDAP.

Ab 1937. Er ist  in der Arbeitsgruppe von Werner Heisenberg und Petrus Debye am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin tätig.

1938. Als NSLB-Mitglied kann er sich an der Berliner Humboldt-Universität habilitieren.

20. September 1939. Kurt Diebner (Fachmann des Heeres für Sprengstoffe und Atomkernphysik) entwirft mit Erich Bagge (Atomphysiker) zusammen ein Programm mit dem Titel "Vorbereitender Arbeitsplan zur Aufnahme von Versuchen für die Nutzbarmachung der Kernspaltung" mit dem die Forschungsarbeiten koordiniert werden sollten. Das Ziel des Programms ist die Erreichung einer kontrollierten Kettenreaktion in einem Atomreaktor. Es folgen zwar nur wenige Physiker (darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz)  dem Ruf nach Berlin. Alle sind jedoch zur Mitarbeit bereit. Werner Heisenberg stößt erst relativ spät zu dem Projekt, arbeitet jedoch intensiv daran und übernimmt bald eine führende Rolle.

Ende 1944. Werner Heisenberg, Walther Bothe und Karl Wirtz bleiben zunächst in Berlin und bereiten die Errichtung des großen Uranreaktors im fast fertig gebauten Bunker vor. Er kann von Wirtz mit 1,25 Tonnen Uran und 1,5 Tonnen schwerem Wasser bestückt werden. Der Versuch zeigt eine deutliche Vermehrung der aus einer radioaktiven Neutronenquelle zugeführten Neutronen. Wirtz bereitet daraufhin einen größeren Versuch vor.

30. Januar 1945. Die Rote Armee überquert bei Kienitz die Oder und errichtet unmittelbar darauf einen Brückenkopf. Der Vorstoß auf Berlin ist absehbar. Daraufhin gibt Wirtz die Anweisung, Berlin zu verlassen. Das Uran und das schwere Wasser werden zu Diebner nach Stadtilm verfrachtet, während die Physiker nach Hechingen fliehen.


23. April 1945. Alliierte Spezialeinheiten der Alsos-III-Mission entdecken in Haigerloch die Anlage in der die deutsche Entwicklung zum Bau einer Atombombe unter Werner Heisenberg stattfand. Ein kleines Unternehmen im Vergleich zum Manhattan-Projekt der USA. Die 664 Uranwürfel - zu wenig um einen Forschungsreaktor in Gang zu bringen - werden versteckt. Der Reaktorbehälter strahlt nicht. Es hat dort keine Kettenreaktion stattgefunden. Heisenberg und sein Team haben lange mit falschen Zahlen gerechnet und daher erwartet dass mehrere Tonnen Uran-235 für eine Atombombe notwendig wären. Tatsächlich werden nur wenige Kilo benötigt.
Der Reaktor wird zerstört und alle Materialien und Forschungsberichte beschlagnahmt und zur Analyse in die USA geschafft. Die deutschen Wissenschaftler des Uranprojekts werden verhaftet. Bagge, Carl Friedrich von Weizssäcker und Wirtz werden in Hechingen gefasst, Werner Heisenberg in seiner Heimat Urfeld, Walther Gerlach und Kurt Diebner in München und Paul Harteck in Hamburg. In Teilfingen (heute: Albstadt) werden die Chemiker Otto Hahn, Horst Korsching und Max von Laue aufgegriffen.
Über kurze Zwischenaufenthalten in Reims, Versailles und Huy werden sie nach England in das Landhaus Farm Hall, in Godmanchester nahe Cambridge (Südengland) gebracht.

April 1945 bis 1946. Die führenden Wissenschaftler des Uranprojekts  (dabei Otto Hahn, Max von Laue, Werner Heisenberg, Walther Gerlach, Erich Bagge, Horst Korsching, Kurt Diebner, Karl Wirtz Paul Harteck und Carl Friedrich von Weizsäcker) sind in "Farm Hall" in England interniert. Die Gespräche der Wissenschaftler werden durch das englische Militär abgehört und aufgezeichnet.

Walther Gerlach schreibt später:

"Alle hatten in irgendeiner Weise in dem Uran-Verein an der Entwicklung eines Uranreaktors gearbeitet – außer Hahn selbst und Max von Laue. – Warum man sie holte, war und blieb so unklar wie ihr Status – ob gefangen, interniert, in Schutzhaft, sichergestellt: Hahn erfand das Wort die Detainten, die als guests of His Majesty, at the pleasure of His Majesty zu einem, abgesehen von Radio und Zeitungen, weltabgeschlossenen Leben gezwungen waren. Von Anfang an war er ganz selbstverständlich der Doyen der Gruppe; schnelle Erfassung einer Situation, klares Urteil, Menschlichkeit, Humor, Schlagfertigkeit und Standhaftigkeit, alle Register standen ihm für die Verhandlungen mit den ‚Betreuern‘, für die Regelung von Schwierigkeiten zur Verfügung."

6. August 1945. Major Terence H. Rittner (Diensthabender Offizier des Internierungslagers "Farm Hall") erhält aus London den Befehl dass die Gefangenen um 18 Uhr Radio hören sollen. Ritter soll die Reaktionen der Wissenschaftler auf die Meldungen verfolgen. Hahn, Heisenberg und Wirtz hören die Nachricht der BBC von der US-amerikanischen Atombombe die auf die japanische Stadt Hiroshima abgeworfen worden ist. Die Reaktionen der drei Wissenschaftler sind unterschiedlich:
  • Wirtz äußert dass er froh  ist dass sie nicht selbst die Bombe hatten.
  • Heisenberg vermutet zunächst einen "Bluff" und vertritt später die Meinung dass es wohl der schnellste Weg war, den Krieg zu beenden. Er überdenkt dann schnell den wahrscheinlich von den US-Amerikanern eingeschlagenen Weg und die Größenordnung der kritischen Massen und hält am folgenden Tag ein Seminar darüber.
  • Hahn sieht sich in all seinen Befürchtungen bestätigt die ihn seit seiner Entdeckung der Atomspaltung im Dezember 1938 gequält haben. Er ist stark erschüttert, fühlt sich für den Tod von hunderttausenden japanischen Zivilisten verantwortlich und ist dem Suizid nahe. Er ist nur froh dass es den Deutschen nicht gelungen ist. In diesen schweren Stunden erwächst Hahns aktiver Pazifismus, der ihn in den nachfolgenden Jahren zu einem der engagiertesten und bedeutendsten Vorkämpfer für Frieden, Abrüstung und Völkerverständigung werden lässt.
  • Von Weizsäcker sagt dass es schrecklich sei was die Amerikaner getan haben und dass er die Aktion für Wahnsinn halte.
Carl Friedrich von Weizsäcker erinnert sich:

"Otto Hahns Reaktion auf Hiroshima war schrecklich. Denn Hahn war von früh an ein entschlossener Gegner des Nationalsozialismus. Er war ein guter, klassischer Liberaler. Seine ganze Hoffnung hatte er auf einen Sieg des Westens gesetzt, also auf einen Sieg Amerikas. Und nun erfuhr er, dass die Leute, auf die er seine Hoffnung gesetzt hatte, diese Waffe entwickelt und auch tatsächlich eingesetzt hatten. Das hat ihn erschüttert.

Diese Erschütterung von Otto Hahn am Tage von Hiroshima hat ihn mir noch einmal ein ganz großes Stück menschlich nähergebracht, gerade weil evident war, dass er sich für etwas verantwortlich fühlte, das er nach jeder normalen Regel nicht zu verantworten hatte. Denn Otto Hahn war ein wirklich moralischer und reifer Mensch, und so waren die Toten von Hiroshima für sein Empfinden auf seinem Gewissen. Und für dieses Empfinden habe ich ihn verehrt."

Werner Heisenberg schreibt in seinen Erinnerungen:

"Am tiefsten getroffen war begreiflicherweise Otto Hahn. Die Uranspaltung war seine bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung, sie war der entscheidende und von niemandem vorhergesehene Schritt in die Atomtechnik gewesen. Und dieser Schritt hatte jetzt einer Großstadt und ihrer Bevölkerung, unbewaffneten Menschen, von denen die meisten sich am Kriege unschuldig fühlten, ein schreckliches Ende bereitet. Hahn zog sich erschüttert und verstört in sein Zimmer zurück, und wir waren ernstlich in Sorge, dass er sich etwas antun könnte."

Der Wissenschaftshistoriker Friedrich Herneck fasst in einer historischen Analyse die wesentlichen Punkte zusammen:

"Dass die von Hahn erschlossene Einsicht zunächst nicht zum Nutzen der Menschheit, sondern zu ihrem Verderben, zur Schaffung von Massenvernichtungsmitteln, ausgewertet wurde, ist den politischen Verhältnissen zuzuschreiben, in die diese Entdeckung zeitlich fiel. Den Gelehrten trifft daran keine Schuld. Aber gerade durch diese tragische Verkettung von Wissenschaft und Gesellschaft wurde Otto Hahn zu einer einzigartigen weltgeschichtlichen Gestalt, zu einem jener Naturforscher, die in ihrer Bedeutung hoch hinausragen über den Bereich ihres fachwissenschaftlichen Sondergebietes, wie – auf andere Weise – Galilei oder Darwin."

Die Interpretation der Farm-Hall-Protokolle ist umstritten, da einige der inhaftierten Physiker ahnten, dass sie abgehört wurden.

9. August 1945. Über Nagasaki wird die zweite US-amerikanische Atombombe abgeworfen.

1946 bis 1957. Nach seiner Entlassung arbeitet er als Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen im Bereich der Atomphysik. Dort leitet er auch die Planungsgruppe für Reaktorkonstruktion, zu der neben anderen Rudolf Schulten gehört.

1955. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhält die Bundesrepublik Deutschland erst durch den Deutschlandvertrag die Souveränität und damit die Möglichkeit zur eigenen Reaktorforschung. Unmittelbar nach Abschluss des Vertrages werden die Planungen für den Forschungsreaktor FR-2 unter der Leitung von Karl Wirtz und unter Mitarbeit von Rudolf Schulten aufgenommen. Es ist der erste Reaktor in der Bundesrepublik Deutschland, der nach eigenem Konzept und in eigener Verantwortung gebaut wird.

1956. Das geplante "Atomforschungszentrums" wird vom Rhein bei Karlsruhe-Maxau in den Hardtwald bei Leopoldshafen verlegt und durch Franz Josef Strauß (Bundesminister für Atomfragen) als Reaktorbau- und Betriebsgesellschaft gegründet und später in Kernforschungszentrum Karlsruhe GmbH (KfK) umbenannt. Wirtz ist maßgeblich an der Gründung beteiligt.

Ab 1957. Wirtz ist im Atomforschungszentrum Karlsruhe Leiter des Instituts für Neutronenphysik und Reaktortechnik sowie Ordinarius an der Universität Karlsruhe wo der Forschungsreaktor FR-2 schließlich aufgebaut wird.

12. April 1957. Carl-Friedrich von Weizsäcker gehört zu Initiatoren und Verfassern der "Göttinger Erklärung". In dieser spricht er sich mit 17 führenden westdeutschen Atomwissenschaftlern gegen die atomare Aufrüstung der deutschen Bundeswehr aus:

"Die Pläne der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge... Die Unterzeichner fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen... Jede einzelne taktische Atombombe ...hat eine ähnliche Wirkung, wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat...Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung der Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten ... Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken."

Unter den 18 Unterzeichnern die auf Anraten des Religionsphilosophen Martin Buber eine Selbstverpflichtung abgaben, in der sie versicherten dass keiner der Unterzeichner "sich an der Herstellung, Erprobung oder Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise beteiligen werde" sind neben Otto Hahn auch Werner Heisenberg, Karl Wirtz, Otto Hahn und Carl-Friedrich von Weizsäcker die an der Göttinger Georg-August-Universität lehren und forschen. Carl-Friedrich von Weizsäcker hatte bei einem gemeinsamen Frühstück mit seinem Kollegen Walter Gerlach (Experimentalphysiker) in der Morgenzeitung eine Äußerung des Bundeskanzlers gelesen. Daraufhin telefonierte er die Prominenz der deutschen Atomphysik zusammen und verfasste einen Entwurf für das Manifest.

Neben der pazifistischen Einstellung einiger der 18 Wissenschaftlern  spielte möglicherweise auch ein interessenpolitisches Vorgehen eine Rolle. Die hervorgehobene Beschränkung auf ausschließlich zivil genutzte Atomenergie bot den Wissenschaftlern in Deutschland die einzige Möglichkeit wieder in größerem Rahmen Atomforschung zu betreiben.

Franz Josef Strauß (Bundeskriegsminister), der die atomare Bewaffnung energisch vorantreibt, äußert sich daraufhin vor Journalisten abfällig und beleidigend über Hahn ("Ein alter Trottel, der die Tränen nicht halten und nachts nicht schlafen kann, wenn er an Hiroshima denkt!"). Bundeskanzler Konrad Adenauer entschärft die Situation einige Tage später bei einer Aussprache mit Otto Hahn und vier führenden Wissenschaftlern der Göttinger Achtzehn im Kanzleramt.

Die Göttinger Erklärung findet in der öffentlichen Meinung, nicht nur in Deutschland, ein unerwartetes Echo, vor allem aber bei den Gewerkschaften und an Universitäten, wo sich eine starke studentische Opposition daran anlehnt.

Die Göttinger Erklärung und alle von ihr angeregten und beeinflussten Kampagnen sind fast erfolgreich, denn die deutsche Bundeswehr verbleibt bis zum heutigen Tage von den US-amerikanischen Atomwaffen abgesehen atomwaffenfrei, und es ist wohl kaum anzunehmen, dass sich an diesem Zustand etwas ändern dürfte.

12. Februar 1994. Karl Wirtz stirbt.

Bilder aus Wikimedia Commons
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Quellen