Samstag, 5. Oktober 2019

NSU - Mord an Abdurrahim Özüdoğru am 13. Juni 2001

Der Schneider Abdurrahim Özüdoğru wurde am 13. Juni 2001, am Tag vor Fronleichnam, gegen 16 Uhr 30 als zweites Opfer der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in einer Änderungsschneiderei in der Südstadt von Nürnberg mit zwei Kopfschüssen getötet. Özüdoğru war 49 Jahre alt und geschieden. Hauptberuflich arbeitete er als Schichtarbeiter bei Siemens. Nebenberuflich half er in dem Ladengeschäft aus. Seine Tochter Tülin verlor im Alter von 17 Jahren den Vater.

Ermittlungen

Karlheinz B. (Polizeibeamter) wurde am 13. Juni 2001 gegen 21 Uhr 30 zu einem Einsatz gerufen, nachdem ein Passant Abdurrahim Özüdoğrus leblosen Körper auf dem fleckigen PVC-Boden hinter dem Schaufenster eines Laden liegen sehen hatte. Er fand den Mann "mit dem Hintern am Boden sitzend, den Oberkörber an der Tür, die Füße ziemlich gestreckt" vor. Puls war keiner zu fühlen. An der rechten Schläfe hatte Özüdoğru einen Einschuss. Danach übernahm die Kriminalpolizei den Fall.

Norbert H. (Experte der Mordkommission) aus Nürnberg machte nach dem Leichenfund die Tatortarbeit und kam ca. 1,5 Stunden nach Karlheinz B. an den Tatort. Es war frühsommerlich warm. Laut Akten waren es draußen 20°C und am Tatort 18,8°C. Norbert H. sagt im NSU-Prozess aus, dass er "leider eine veränderte Situation'" vorgefunden hat.
Die Leiche wurde von Polizeibeamten demnach von der Tür weg, nach vorn gezogen weil eine Waffe gesucht wurde. Die Waffe selbst wurde nicht gefunden, nur 2 Patronenhülsen und 2 Projektile von denen eines im Kopf des Toten steckte. Norbert H. versuchte wegen der veränderten Lage der Leiche die Tat mit einer schwarzen Puppe zu rekonstruieren. Demnach muss der zweite Schuss abgegeben worden sein, als Özüdoğru schon am Boden lag.

Bei der kriminaltechnischen Untersuchung stellte sich heraus dass bei dem Mord die selbe Pistole vom Typ Česká 83 wie beim Mord an Enver Şimşek verwendet worden war. Die weiteren Ermittlungen blieben ebenfalls ergebnislos.  Auch hier konnten die Täter erst nach dem Auffliegen des NSU im Jahr 2011 identifiziert werden.

Die Zeugenaussagen

Rita G. (Rentnerin, 70 Jahre) war die direkte Nachbarin von Abdurrahim Özüdoğru. Neben seinem Atelier betrieb sie ein Zeitschriftengeschäft. Laut ihrer Aussage im NSU-Prozess war er ein "ganz, ganz netter Mann gewesen, ein lieber Mensch ... immer zu einem Späßle bereit". Am 13. Juni 2001 kaufte er wie immer "seine" Hürriyet bei ihr und sprach über den Lotto-Jackpot. Um etwa 16 Uhr fuhr sie an dem Tag auf die Bank. Kurz davor war ein Mann in ihrem Laden und kaufte eine Schachtel Marlboro. Später erkannte sie ihn auf einem Phantombild wieder. Er war vorher nie da und hat laut ihrer Erinnerung eine Jeansjacke getragen.
Bei der weiteren Befragung ist die Zeugin aufgeregt und kann sich kaum mehr an etwas erinnern. Sie hat Angst und fängt an zu weinen. Die Zeugenbetreuerin muss sich neben sie setzen und beruhigen. Götzl unterbricht daraufhin die Verhandlung und ordnet die Beiordnung eines Zeugenbeistands an. Sie hat Angst "dass man mich wegmacht ... Nürnberg ist ein "heißes Pflaster"  wo man ja nie weiß, wer so vorbei kommt".

Sabine M. (Rentnerin, 47 Jahre) wohnte gegenüber dem Ermordeten und war laut ihrer Aussage  beim NSU-Prozess mit ihrem Sohn im Wohnzimmer als sie 2 Schüsse gehört hat. Etwa 2 bis 3 Tage vorher hat sie "ein paar laufen sehen, die dann in der Presse waren".  Abdurrahim Özüdoğru, das Opfer kannte sie nicht. Er war nur "der Schneider". Von ihrem Fenster aus sah sie Özüdoğru am Boden liegen. Nach den Schüssen lief sie zum Fenstern und sah einen Mann aus dem Atelier kommen. Dieser ging laut ihrer Aussage mit einer zweiten Person weg. "Da war noch 'ne Frau dabei, die war aber damals blond, vor vielen Jahren".

Später half sie der Polizei bei der Anfertigung des Phantombildes von einem Mann in einem karierten Holzfällerhemd. Laut ihrer damaligen Aussage sah sie damals einen dunkelblauen Pkw und war der Meinung, dass es sich um Polen und Russen gehandelt habe. Von der Frau ist in den Akten nicht die Rede. Sie meint aber "Das hab ich damals aber angegeben".

Michael L. (Nachbar / 25 Jahre) sagt beim NSU-Prozess aus, dass er "einen Schlag hörte, dann war es auch gut". Zunächst hielt er es laut seiner Aussage für einen Silvesterkracher "dann war es auch gut". In der Aussage nach dem Mord erinnerte er sich jedoch noch an 2 Geräusche.

Harald M (Nachbar / 66 Jahre) brachte seine Sachen zum Ausbessern zu Abdurrahim Özüdoğru. Er sagt beim NSU-Prozess aus, dass er "gegen 17 Uhr" gerade sein Auto parkte, nachdem er direkt aus dem Urlaub gekommen war. Als er den Hausgang betrat hörte er einen "richtigen Krach, wie in Kanonenschlag, bumm". Danach schleppte er laut eigener Aussage den ersten Koffer in die Wohnung hoch. Als er dannn auf die Straße zum weiteren ausladen zurückkam rannte einer weg und fuhr mit dem PKW davon".
Laut einer Aussage im Jahr 2008 kam er jedoch zwischen 18 und 19 Uhr aus dem Urlaub zurück und hörte zwei Knallgeräusche aus der Wohnung.

Der Mord im NSU-Prozess

24.06.2013. Der Mord an Abdurrahim Özüdoğru ist am 14. Verhandlungstag Thema beim NSU-Prozess. Es werden mehr als 100 Fotos vom Tatort gezeigt, die von Norbert H. kommentiert werden. Diese werden auch groß an die Leinwände an den Saalwänden projeziert. Am Anfang sieht man eine Straße, die Sonne scheint auf blühende Bäume. Im Hintergrund sind Häuser und geparkte Autos zu sehen.

Dann wird ein Schaufenster von Außen gezeigt. Darauf steht in dicken Buchstaben "Änderungs Schneiderei Aller Art". Dann die Leiche. Zuerst in einer Komplettansicht mit Umgebung. Abdurrahim Özüdoğru liegt inmitten von Kleiderbergen, Plastiktüten und Krimskrams in seinem Schneideratelier.
Nun kommen blutige Details, das Gesicht mit dem Einschussloch über der Schläfe. Das unrasierte Kinn blutverschmiert. Ein Polizist zeigt mit der Hand auf einen Punkt am Hinterkopf wo das zweite Projektil ertastet werden konnte. Von der Schläfe läuft Blut ins Ohr. Blutstropfen fielen auf seinen Arm. Er liegt in einer riesigen Blutlache.
Auf einem Zettelchen an der Türklinke steht "Komme gleich wieder".

Nun werden auch Fotos von der Privatwohnung, die hinter dem Schneideratelier liegt gezeigt. Auch ein Stadtplan des reinen Wohngebiets, das laut H. "nicht von zufälligen Passanten frequentiert wird" ist bei den Bildern dabei. Später sollen auch Fotos der Obduktion folgen.
Nachdem ein Anwalt um Vergrößerungen der Außenaufnahmen gebeten hat sieht man am Fallrohr der Dachrinne unmittelbar neben dem Tatort einen Aufkleber der Neonazigruppe "Fränkische Aktionfront" (Verboten im Jahr 2004). Dieser wurde offenbar 2001 hergestellt. Nun soll untersucht werden, ob er sich bereits am Tatzeitpunkt an dem Rohr befunden hat.

25.06.2013. Tülin Özüdoğru (die Tochter des Ermordeten) trat im Hotel Adlon in Berlin bei der Verleihung des Genc-Preises 2013 auf. Bereits vor dem Auftritt ringt sie um Fassung. Die Wunden sind auch 12 Jahre nach der Tat offen. Sie erzählt, wie von den Behörden Mißtrauen gesät wurde, wie Existenz, Freunde und Ehre entgleiten. Wie Mutter und Tochter niemandem mehr vertrauen weil ihnen nicht vertraut wird. Ihre Rede dauert knapp 10 Minuten. Sie sagt, dass der Preis eine riesige Ehre sei. Sie wäre in Deutschland geboren. Deutschland wäre ihre Heimat und sie würde Deutschland lieben. Umgekehrt habe sie jedoch das Zeichen der Liebe, welches sie sich umgekehrt von Deutschland ersehne noch immer nicht bekommen.
Neben Tülin Özüdoğru erhält auch Sebastian Edathy (SPD) als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags den Genc-Preis, der mit 10.000 Euro dotiert ist. Der Preis wird von der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung, der Deutsch-Türkischen Gesellschaft und der Allianz Kulturstiftung verliehen und erinnert an die Familie Genc, die bei dem rassistischen Brandanschlag in Solingen 5 Angehörige verlor.
Laut Edathy hat der Staat seine zwei rechtsstaatlichen Kernversprechen gebrochen. Er konnte die Menschen nicht schützen und versagte danach bei der objektiven und fairen Aufklärung.
Bei der Veranstaltung anwesend waren u.a. auch Norbert Lammert (CDU-Bundestagspräsident) als Schirmherr, Frank-Walter Steinmeier (SPD - Kanzlerkandidat) als ein Laudator, Maria Böhmer (Integrationsbeauftragte der Regierung).

Die Mordopfer des NSU
Enver ŞimşekAbdurrahim ÖzüdoğruSüleyman TaşköprüHabil KılıçMehmet Turgutİsmail YaşarTheodoros BoulgaridesMehmet KubaşıkHalit YozgatMichèle Kiesewetter