Samstag, 4. Oktober 2014

Atomunfall von Goiânia 1987

Schaubild einer typischen Kapsel
aus der Strahlentherapie




13. September 1987. Das Zentrum für Strahlentherapie "Instituto Goiâno de Radioterapia" steht schon mehrere Jahre leer. Es ist vom Bundesstaat Goiás vor mehreren Jahren gekauft worden. Zu Beginn war es noch von Sicherheitsleuten bewacht worden. Anfang 1987 sind diese jedoch verschwunden. Ausser Plünderer und Obdachlosen interessiert sich niemand mehr für das Gebäude.
In Brasilien in Goiânia dringen zwei Müllsammler, der 19-jährige Wagner Pereira und Roberto Santos Alves am Abend in die verlassene Klinik ein. Sie entdecken hinter einer schweren Panzertür eine große, schwere Apparatur. Weil sie nicht komplett mit der Schubkarre vortgeschafft werden kann brechen sie das Gerät auf um kostbare Bauteile zu finden. Zum Vorschein kommt ein glänzender Zylinder mit einem Durchmesser von etwa 50 Zentimeter aus Stahl. Er wiegt mehr als 130 Kilogramm. Keinem der beiden ist klar dass sie soeben ein Strahlentherapiegerät geöffnet und eine hochradioaktive Kapsel mit der Schubkarre zu Robertos Haus fahren.
Im Hinterhof von Alves zerlegen sie den Bestrahlungskopf und versuchen die Kapsel zu öffnen indem sie tagelang darauf herumhämmern wobei sie Verbrennungen durch Gamma- und Betastrahlen erleiden. Den Männern geht es dabei immer schlechter, sie müssen sich dabei übergeben und leiden an Durchfall. Die Hand Wagners schwoll an. Der Arzt diagnostiziert jedoch nur eine Allergie.

18. September 1987. Pereira und Alves geben auf. Sie fahren den Zylinder in einen alten Teppich eingewickelt zum Schrotthändler Devair Alves Ferreira und bekommen dafür 1600 crucados [zu der Zeit ca. 25 US-Dollar].
In der folgenden Nacht wacht Ferreira auf. Er steht auf und sieht ein "hübsches blaues Licht" aus seiner Garage scheinen. Dieses kommt aus einem Loch das von Pereira und Alves in den Zylinder gebohrt worden war.
Daraufhin lässt Ferreira den Zylinder von seinen Gehilfen aufbrechen. Der Stein der zum Vorschein kommt zerfällt bei Berührung zu fluoreszierendem Puder. Ferreira beschließt aus Teilen des "Leuchtsteins" einen Armreif für seine Frau anfertigen zu lassen. Er ahnt nicht dass er soeben einen Block des radiaktiven Isotops Cäsium-137 freigelegt hat. Weil Salz Luftfeuchtigkeit anzieht kann es leicht an Körper und Kleidung haften was die Verbreitung vereinfacht.
Ferreira lädt danach stolz Freunde, Verwandte und Nachbarn ein um das "Wunder" zu zeigen. Sie schminken sich damit wie normalerweise mit Glitter. Ein Bruder Ferreiras malt sich ein Kreuz auf den Körper. Großzügig verschenkte er Splitter des Steins an seine Besucher. Diese stellten sie zu Hause als Schmucksteine auf. In den nächsten Tagen trägt Odesson Ferreira (Bruder des Schrotthändlers) als Busfahrer die radioaktiven Partikel in öffentliche Busse. Einer der Mitarbeiter vom Schrottplatz verschleppt Teile in seine Heimatstadt Anápolis. Andere Teile der Kapsel werden verkauft und später auf einem 130 Kilometer entfernten Bauernhof in einer Druckerei wieder gefunden. Spuren gelangten bis in eine Papierfabrik in São Paulo das 800 Kilometer entfernt liegt.

21. September 1987. Mariella Gabriela Ferreira  (Frau des Schrotthändlers) schöpft Verdacht weil sie und viele ihrer Freunde krank wurden und an Durchfall und Übelkeit leiden. Sie lässt sich daher im São Lucas Hospital untersuchen. Wie zuvor bei Pereira und Alves wird jedoch nur eine Allergie diagnostiziert. Weil sie glaubt dass ein Softdrink sie und ihre Besucher krank gemacht hat lässt sie eine Probe davon ohne Ergebnis untersuchen.

25. September 1987. Ferreira verkauft den Bleibehälter an einen anderen Schrotthändler weiter.

28. September 1987. Maria Gabriela Ferreira verdächtigt den leuchtenden Stein, die Krankheiten zu verursachen und bringt ihn in ein Krankenhaus. Sie fährt mit dem Bus, hat aber den Behälter, aus dem bereits 90% der radioaktiven Substanz entwichen sind, glücklicherweise in eine Plastiktüte eingepackt und öffnet diese auch im Krankenhaus nicht was wohl vielen Menschen das Leben rettet. Die Strahlendosis im Bus war nur wenig gesundheitsgefährdend. Laut IAEO sind ca. 44 TBq entwichen.
Der Arzt dort, dem sie erklärt "Dieses Zeug tötet meine Familie!" vermutet richtigerweise Radioaktivität und bringt den Behälter auf einen Stuhl im Garten. Das Krankenhaus verfügt jedoch über keine Strahlenmessgeräte und ruft daher den Physiker Walter Medes Ferreira zu Hilfe.

29. September 1987. Walter Mendes Ferreira (Physiker) stellt mit einem Szintillationszähler der Nationalen Atomenergiebehörde NUCLEBRAS die Kontamination offiziell fest.  Er hielt das Gerät zunächst für defelt weil das Gerät schon voll ausschlug bevor er das Krankenhaus überhaupt erreicht hatte. Als er zur Klinik kommt kann er gerade noch verhindern dass die Feuerwehr, die zwischenzeitlich von besorgten Ärzten alarmiert worden war, das Cäsium-137 in einem Fluss entsorgt.
Ferreira veranlasst daraufhin sofort die Evakuierung des Krankenhauses. Zwischenzeitlich waren zahlreiche Personen teilweise sehr hohen Strahlungen ausgesetzt. Ab sofort setzt daraufhin das behördliche Notfallprogramm ein. Notdürftige Messtrupps in Overalls und Turnschuhen versuchen Strahlungsherde zu finden. Sie verschleppen dabei selbst die Kontamination. Die Regierung wird später beschuldigt, den Unfall eine Zeit lang vertuscht und der Zivilbevölkerung alarmierende Daten vorbehalten zu haben.

Die folgenden Tage. Hubschrauber fliegen mit Meßgeräten über Goiânia. An allen Einwohnern von Goiânia und deren Umgebung werden Kontaminationsmessungen durchgeführt. Insgesamt werden 112.800 Personen untersucht. Das radioaktive Material ist bereits über mehrere Wohnbezirke verschleppt worden. Ganze Straßenzüge und Plätze, insgesamt 85 Häuser sind kontaminiert. Auf Ferreiras Schrottplatz werden bis zu 1000 REM / Stunde gemessen. Der zulässige Grenzwert liegt bei 5 REM / Jahr.
Mehr als 200 Menschen müssen aus 41 stark kontaminierten Häusern evakuiert werden. Sie werden im Olympiastadion in einem provisorischen Zeltlager untergebracht. 7 Gebäude müssen komplett abgerissen werden, in Gärten und öffentlichen Parkanlagen musste teilweise die oberste Erdschicht abgetragen werden. Die Mutter eines Erkrankten hat einen Teil des Cäsiums die Toilette hinuntergespült und die Kanalisation versucht.
Von den untersuchten Personen sind 249 so schwer kontaminiert dass sie in Quarantäne gebracht werden müssen. Schwerverletzte werden in ein Krankenhaus der Marine in Rio de Janeiro transportiert. 49 werden interniert, 21 intensiv. Mindestens 4 Menschen sterben. Einigen Betroffenen mussten Glieder amputiert werden. Der Schrottsammler Roberto Alves verlor einen Arm wegen der Bestrahlung. 28 Menschen erlitten strahlungsbedingte Hautverbrennungen.
In Brasilien kommt es zu einer Panik. Die anderen Bundesstaaten des Landes wollen die 3500 Kubikmeter radioaktiven Müll nicht einlagern. Aus Angst vor Strahlung werden Reisende aus Goiânia aus Hotels geworfen. Niemand will mehr etwas aus Goiânia kaufen so dass die Umsätze der örtlichen Industrie um 40% einbrechen.

23. Oktober 1987. Leide das Neves Ferreira, die Nichte stirbt als erstes Opfer im Alter von 6 Jahren an einer Strahlendosis von 3000 REM. Ivo, der Bruder des Schrotthändlers hatte den Behälter gereinigt. Mit dem Cäsium-137 hatte Ivo den Esstisch dekoriert und Leide spielen lassen. Sie musste in einem 700 Kilogramm schweren Sarg - ein Block aus Blei und Beton begraben werden.
Maria Gabriela Ferreira, die Frau des Schrotthändlers stirbt wenige Stunden später noch am selben Tag an einer Strahlendosis von 5,4 Gray.

25. Oktober 1987. Ein gepanzerter Leichenwagen bringt Leide das Neves Ferreira zum Parkfriedhof von Goiânia. Demonstranten werfen mit Steinen und reisen Kreuze von den Gräbern ab um sie in Richtung der Toten, die während der Zeremonie von Polizisten abgeschirmt wird, zu schleudern. Während Leide in die Erde hinabgesenkt wird klingen Sprechchöre des Mobs über den Friedhof.

26. Oktober 1987. 2 Gehilfen des Schrotthändlers sterben an einer Strahlendosis von  4,5 und 5,3 Gray.

1994. Der Schrotthändler Devair Alves Ferreira überlebt zunächst eine Strahlendosis von 7,0 Gray. Er macht sich über die Situation lustig und fordert Geld für Fotografien und Interviews. Sein Überleben führt er auf seinen starken Bier- und Schnapskonsum zurück. Später heiratet er noch. Ein langes Leben hatte er jedoch nicht mehr. 1994 stirbt er.

Weitere Schäden. Der Bruder des Schrotthändlers malte sich ein blau leuchtendes Kreuz auf sein Hemd und brachte die Kontamination auf seinen Bauernhof. Dort sterben mehrere Tiere. Er selbst starb wenige Jahre später.
Obwohl für die Dekontamination ein gewaltiger Aufwand betrieben wurde, werden auch heute [2012] in einigen der betroffenen Straßenzüge und Plätze erhöhte Strahlenwerte gemessen. Die wirtschaftlichen Folgen für die Stadt und Region Goiânia waren gravierend. 85 Häuser waren kontaminiert worden, 41 mussten davon evakuiert und 7 abgerissen werden. Dabei wurde 3500 Kubikmeter radioaktiv belasteter Abfall produziert der wiederum in 14 Containern für 180 Jahre sicher gelagert werden muss. Extra dafür wurde der Parque Estadual Telma Ortegal errichtet. Der komplette Inhalt der abgerissenen Häuser wurde auf Kontamination untersucht. Bei bestätigter Kontamination und großem persönlichen Wert wurden die Gegenstände gereinigt und zurückgegeben um den psychologischen Schaden möglichst gering zu halten. Alle kontaminierten Häuser würden mit speziellen Staubsaugern gereinigt. Dächer, Wände und Decken mussten abgekratzt und neu gestrichen, zwei Dächer komplett ersetzt werden.
Gegen die drei Ärzte, denen das verlassene Krankenhaus gehört hatte, wurde eine Klage wegen grober Fahrlässigkeit eingereicht. Inventarlisten sind seitdem Pflicht.
Auf der Internationalen Bewertungsskala für atomare Ereignisse (INES) wird der "Unfall" mit Stufe 5 (von 7) eingestuft.

Spätfolgen. Etwa 500 Menschen leiden an den Spätfolgen. Bis heute [2012] kommt es in der Bevölkerung zu Missbildungen und Erbschäden.

Bilder aus Wikimedia Commons
Schaubild einer typischen Kapsel aus der Strahlentherapie, Lizenz: Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“, Urheber: KDS444

Quellen