Freitag, 28. Juni 2019

Marwa El-Sherbini

Gedenken an Marwa El-Sherbini am Dresdner Rathaus
Die ägyptische Handballnationalspielerin und Pharmazeutin Marwa Ali El-Sherbini (arabisch مروة على الشربيني, DMG Marwa ʿAlī aš-Šarbīnī) wurde am 7. Oktober 1977 in Alexandria in Ägypten geboren († 1. Juli 2009 in Dresden).

Internationales Aufsehen erregte ihr gewaltsamer Tod, als sie während einer Strafverhandlung im Landgericht Dresden, zu der sie als Zeugin geladen war, vom Angeklagten aus islam- und ausländerfeindlichen Motiven erstochen wurde.

In Ägypten und in der übrigen muslimischen Welt kam es zum Teil auch zu Protestkundgebungen, bei denen insbesondere aufgrund des langen Ausbleibens einer als angemessen erachteten Reaktion von deutscher Seite vermehrt auch antideutsche Haltungen zum Ausdruck gebracht wurden. Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad bezeichnete die Tat als „vorprogrammiert“ und verlangte eine Sanktionierung Deutschlands durch die Vereinten Nationen. Der Westen beklage sich über Menschenrechts­verletzungen im Iran, und gleichzeitig werde in einem deutschen Gerichtssaal eine „unschuldige Frau zerstückelt“.

Deutsche Medien hatten den Fall dagegen bis auf wenige Ausnahmen zunächst tagelang als persönliche Tragödie bewertet und den rassistischen Hintergrund der Tat weitgehend verschwiegen. Erst auf öffentlichen Druck aus dem Ausland (bis hin zur englischsprachigen Presse wurde beklagt, dass Deutschland die „wahre Bedeutung“ des Mordes ignorierte)[ wurde dieses Bild allmählich korrigiert, und auch die deutsche Politik reagierte erst daraufhin. Noch drei Wochen nach der Tat „[…] schwiegen Vertreter der Kirchen und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, Erfinder der Deutschen Islam Konferenz. Maria Böhmer, als Integrationsbeauftragte offenbar für die deutschen Muslime zuständig, kondolierte. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach mit dem ägyptischen Botschafter, aber nicht zur deutschen Öffentlichkeit. Das ‚plötzliche Ausrasten‘ in einem ‚ganz normalen Beleidigungsprozess‘ wurde breit gemeldet, doch der politische Hintergrund der Tat ließ SZ, FAZ und ‚Tagesthemen‘ anderthalb Wochen lang, den Spiegel zweieinhalb Wochen und ‚Kulturzeit‘ bis heute kalt.“

Frühzeitig reagiert habe dagegen Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der zum Ehemann der Ermordeten nach Dresden gereist sei. Das „Paradox“ und die „politische Explosivität“ der Tatsache, dass Marwa El-Sherbini „auf die deutsche Justiz vertraut, […] bei ihr Schutz vor dem Ausländerhass gesucht [hatte] – und […] in einem deutschen Gerichtssaal schutzlos gestorben [ist]“, sei ansonsten zunächst kaum wahrgenommen worden:

„Wenn man einmal Mutmaßungen über das (west-)deutsche Mehrheitsbewusstsein anstellen darf, dann spielten sich dort nach dieser Tat folgende Gedankengänge ab: 

  1. Wie furchtbar, die arme Frau, was für ein Unglück.
  2. Die Tat geschah nicht wirklich in Deutschland, sondern im Osten.
  3. Der Täter ist ein Russlanddeutscher […], also keiner von uns.
  4. Ein Einzelfall also: Übergang zur Tagesordnung.

So wurde die Sache mental marginalisiert, auch die Politik nahm das alles zunächst nur aus dem Augenwinkel wahr. Die Dresdner Justiz hatte die Verhandlung für eine Routinesache gehalten. Was anderswo Standard ist – Taschenkontrolle, Metalldetektoren –, bildet die Ausnahme in sächsischen Gerichtsgebäuden. Für eine solche Ausnahme aber, so Justizminister Geert Mackenroth (CDU), waren ‚keine besonderen Sicherheitsrisiken erkennbar‘.

Die Wahrnehmungsschwäche wirkte weiter, als das Verbrechen schon geschehen war.“

So entschuldigten später mehrere Journalisten der Wochenschrift Die Zeit die problematische Ersteinordnung des Falles auf deutscher Seite und sahen das Land ebenso wie andere deutsche Medien in dieser Phase am „Rand eines Kulturkampfes“. Unter anderem der österreichische Standard kritisierte dagegen die vielfache Verwendung dieses seiner Ansicht nach kaum auf die Vorgänge beziehbaren Begriffs, während die berechtigte Rede von „Islamophobie“ nur langsam ins Bewusstsein sickere.

Der Koordinierungsrat der Muslime, der die Verbände DITIB, VIKZ, den Islamrat sowie den Zentralrat der Muslime vereinigt, rief dazu auf, deutschlandweit während des Freitagsgebetes für die Ermordete zu beten. Ferner erwarte man von Behörden, Politikern und Kirchen Schritte zur Bekämpfung der „Islamophobie“ in Deutschland. Die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, Mina Ahadi, warnte vor einer politischen „Instrumentalisierung“ des Vorfalls. Der schreckliche Mord gebe keiner islamischen Organisation das Recht, Islamkritikern einen Maulkorb zu verpassen. Der islamkritische Soziologe und Erziehungswissenschaftler Hartmut Krauss bezeichnete die mediale Darstellung des Sherbini-Mordes als realitätswidrig. Krauss berief sich auf die Informationen bezüglich des Tatmotivs, welche der ermittelnden Staatsanwaltschaft vorlagen, und postulierte, es habe sich bei der Tat um das Ergebnis eines „emotional hochgeschaukelten“ Streits gehandelt. Des Weiteren kritisierte er eine aus seiner Sicht eindeutige interessenpolitische Verwertung des Falles durch die Muslimverbände, die dieses Verbrechen als vermeintliches Resultat einer angeblich vorhandenen „Islamophobie“ ausbeuten würden.

Im Landgerichtsgebäude am Eingangsbereich wurde eine Gedenktafel installiert, an der jedes Jahr am 1. Juli ein Gedenken stattfindet. Seit dem Vorfall werden außerdem alle Besucher am Eingang auf Waffen kontrolliert.

Leben

7. Oktober 1977. Marwa Ali El-Sherbini wird in Alexandria in Ägypten als Tochter des Chemiker-Ehepaares Ali El-Sherbini und Laila Shams geboren.

1992 bis 1999. Marwa El-Sherbini ist Spielerin in der ägyptischen Handballnationalmannschaft der Frauen.

1995. Sie macht ihren Abschluss  am English Girls College in Alexandria. Sie ist dort Schulsprecherin.

1995 bis 2000. Sie studiert Pharmazie und schließt als Bachelor ab.

1998 und 1999. Sie wird bei den arabischen Handballmeisterschaften Dritte.

2005. Sie geht mit ihrem Mann, dem Genforscher Elwy Ali Okaz, nach Bremen. 

2006. Sie hat mit ihrem Mann einen Sohn.

2008. Die Familie zieht nach Dresden. Okaz ist dort Doktorand am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik. Ende 2009 wollen sie nach Ägypten zurückkehren, wo ihr Mann Dozent an der Minufiya-Universität ist.

August 2008. Marwa El-Sherbini wird von dem in Perm als Alexander Igorewitsch Nelsin geborenen Russlanddeutschen Alex Wiens auf einem Dresdner Spielplatz als „Islamistin“, „Terroristin“ und „Schlampe“ beschimpft. Daraufhin informiert eine dritte anwesende Person die Polizei. Die herbeigerufenen Polizeibeamten nehmen den Vorgang vor Ort auf und bearbeiten die Anzeige. Das Amtsgericht Dresden erläßt gegen Wiens einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 11 Euro.

Wiens legt jedoch gegen den Strafbefehl Einspruch ein. Es kommt zu einer Hauptverhandlung, in der Marwa El-Sherbini als Zeugin vernommen wird. Der Angeklagte Wiens wird zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 13 Euro verurteilt. Noch im Prozess äußert er, dass man „solche Leute“ nicht beleidigen kann, da sie keine „richtigen Menschen“ seien. Die Staatsanwaltschaft nimmt das zum Anlass, Berufung einzulegen, um ein höheres Strafmaß wegen eines ausländerfeindlichen Hintergrunds zu erwirken. Auch Alex Wiens legt gegen das Urteil Berufung ein.

1. Juli 2009. In der Berufungsverhandlung greift Alex Wiens die im dritten Monat schwangere Marwa El-Sherbini an, als sie nach ihrer Zeugenaussage den Gerichtssaal 0.10 des Landgerichtsgebäudes verlassen möchte und tötete sie mit 18 Messerstichen. Ihren Ehemann, der ihr zu Hilfe eilen möchte, verletzt er mit drei Messerstichen lebensgefährlich. Außerdem gibt ein hinzukommender Polizist gezielt einen Schuss auf ihren Mann ab, den er für den Angreifer hält, und trifft ihn in ein Bein. Es hat vorher keine Waffenkontrollen am Gebäudeeingang oder im Gerichtssaal gegeben. Der dreijährige Sohn wird Zeuge, wie seine Mutter verblutet. Die Staatsanwaltschaft spricht später von einem Einzeltäter, der aus einer „extrem ausländerfeindlichen Motivation“ handelte.

5. Juli 2009. Nach einer zentralen Trauerkundgebung mit 2000 Teilnehmern in Berlin wird der Leichnam von Marwa El-Sherbini nach Ägypten überführt.

6. Juli 2009. Sie wird in Alexandria beigesetzt, wo sie als Märtyrerin gilt.

8. Juli 2009. In einem Gastkommentar in Österreich wirft Tarafa Baghajati deutschen Medien im Mordfall vor, sie hätten „die Nachricht zuerst systematisch unterdrückt, und jetzt wird sogar versucht, eine Art Täter-Opfer-Umkehr zu gestalten.] Er vertritt die Meinung, dass es „der im deutschsprachigen Raum erste aus Islamhass verübte Mord“ sei.

Trauerzeremonie am Rathaus von Dresden,
Redebeitrag des ägyptischen Botschafters
11. Juli 2009. In Dresden findet am Nachmittag am Rathaus nach einem Aufruf des Dresdner Ausländerrates, des Ausländerbeirates der Stadt sowie weiterer Gruppen durch lokale Medien eine Trauerveranstaltung mit mehreren Ansprachen statt. Der sächsische Justizminister Geert Mackenroth spricht von einer „Tragödie“: „Mein Mitgefühl gilt dem Opfer und seinen Angehörigen. Wir werden alles tun, um Motiv und Hintergründe der Tat aufzuklären."

Einzelne Bürger, Bürgergruppen und verschiedene Vereine haben ausländerfeindliche Tendenzen in Dresden seit längerer Zeit benannt und erzielen damit eine unterschiedliche Wirksamkeit. In der Folge formiert sich ein regionales „Bündnis für Demokratie“. Der Dresdner Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach fordert zu einem „Umdenken in der Bevölkerung“ auf und formuliert seine Überlegungen in einem offenen Brief mit dem Titel „Dresden – wache auf!“ Auslöser ist die geringe Beteiligung von Politikern und Bürgern an der Trauerveranstaltung.

23. Juli 2009. In Dresden wird das Marwa Elsherbiny Kultur- und Bildungszentrum Dresden gegründet. Zweck der Organisation ist die „Förderung der Kultur, Förderung der Religion und die Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigung“.

Skulptur zwischen Semperoper und Zwinger
26. Oktober bis 11. November 2009. Der Prozess gegen Wiens findet unter strengen Sicherheitsvorkehrungen am Landgericht Dresden statt und endet mit der Verurteilung wegen Mordes an Marwa El-Sherbini und versuchten Mordes an ihrem Ehemann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Das Gericht stellt bei Wiens eine besondere Schwere der Schuld fest, unter anderem weil die Tat sich gegen mehrere Personen gerichtet und mehrere Mordmerkmale aufgewiesen hat. Wiens habe den Mordversuch an Okaz ausgeführt, um den Mord an Marwa El-Sherbini zu ermöglichen, der wiederum heimtückisch und aus niederen Beweggründen – nämlich Ausländerhass – begangen worden sei. Das Gericht schließt eine Affekttat aus und hält Wiens für zum Tatzeitpunkt voll schuldfähig.

Denkmal „18 Stiche“ auf der Prager Straße in Dresden.
Umgeworfen und beschädigt
Sommer 2010. Der Verein Bürger.Courage nimmt das Verbrechen zum Anlass, um mit seiner temporären Kunstinstallation „18 Stiche“ auf Alltagsrassismus und Fremdenhass aufmerksam zu machen. Auf das Dresdner Stadtgebiet verteilt werden 18 Stelen aus Porenbeton, welche die Form von in den Boden gerammten Messern hatten, aufgestellt. Begonnen wird damit am ersten Jahrestag der Ermordung von Marwa El-Sherbini. Während der gesamten sechswöchigen Laufzeit des Kunstprojekts werden immer wieder einzelne Stelen und zugehörige Infotafeln vandaliert.

2012. Das aus Vertretern des Freistaats Sachsen und der Stadt Dresden bestehende Kuratorium des Marwa-El-Sherbini-Stipendiums verleiht erstmals das gleichnamige Stipendium für Weltoffenheit und Toleranz, das eine monatliche Förderung von 750 Euro beinhaltet. „Mit diesem Stipendium erinnern wir an Marwa El-Sherbini auf eine besondere Art und Weise. So lebt der Gedanke an diese engagierte Frau weiter. Junge Menschen setzen sich in ihrem Namen mit Ideen und Wissen für ein weltoffenes Dresden ein“, so Oberbürgermeisterin Helma Orosz.

Ende Mai bis Anfang Juli 2015. Die Künstlerin Nezaket Ekici stellt im Rahmen des von der Kunstkommission der Landeshauptstadt Dresden initiierten dreiteiligen Kunstprojektes „Dresden.? – Arbeiten mit der Stadt“ ihre Teppich-Installation „PostIt“ in der Parkanlage vor dem Landgericht Dresden aus. Die Installation soll für einen Dialog der Kulturen stehen und gleichzeitig Marwa El-Sherbinis gedenken. Auch dieses Kunstwerk wird vandaliert.

18. Oktober 2018. In Bremen wird ein Platz im Ortsteil Steintor nach Marwa El-Sherbini benannt.

Bilder aus Wikimedia Commons
Gedenken an Marwa El-Sherbini am Dresdner Rathaus, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic, Urheber: Lysippos
Trauerzeremonie am Rathaus von Dresden, Redebeitrag des ägyptischen Botschafters, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic, Urheber: Lysippos
Skulptur zwischen Semperoper und Zwinger, Lizenz: Public Domain, Urheber: Pourpre

Quellen