Sonntag, 14. Juli 2019

NSU - Mord im Internetcafe an Halit Yozgat

Holländische Straße 82 in Kassel
Halit Yozgat wurde 1985 in Kassel geboren († 6. April 2006 ebenda).

Er war das neunte und letzte Todesopfer der Mordserie, die in den Jahren 2000 bis 2006 in deutschen Großstädten durch die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) verübt wurde.

Halit Yozgat wurde in seinem Internetcafé im Kasseler Stadtteil Nord-Holland durch zwei gezielte Pistolenschüsse in den Kopf ermordet.

Halit Yozgat wurde 21 Jahre alt.

Zur Tatzeit war Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, anwesend, der zeitweise als Mordverdächtiger galt und festgenommen wurde. Sein Telefon wurde von der Polizei überwacht. Abgehörte Gespräche wurden erst ab 2015 öffentlich bekannt, die Ermittlungen führten bis zur Aufdeckung des NSU im November 2011 ins Leere.

Trotz der weiteren Ermittlungen gegen Temme, mehrfacher Vernehmungen von ihm als Zeugen im Münchener NSU-Prozess und in verschiedenen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, dem Eintreffen von Yozgats Vater kurz nach der Tat und der sekundengenauen Rekonstruktion des Tathergangs durch die Polizei ist der Anschlag bis heute nicht geklärt.

Geschichte

1985. Halit Yozgat wird als Sohn von İsmail Yozgat, der aus der Türkei zugewandert ist, in Kassel geboren. Ismail und Ayse Yozgat haben vier Töchter und einen Sohn.

2006. Er eröffnet gemeinsam mit seinem Vater in der Holländischen Straße 82 ein Internetcafé. Halit Yozgat ist stolz auf sein Internetcafé in einem Mehrfamilienhaus im Holländischen Viertel. Sieben Computerplätze und mehrere abgetrennte Telefonzellen haben sie installiert.

18. März 2006. Im Clubhaus der Bandidos findet, getarnt als Geburtstagsfeier eines Sturm-18-Führungskaders - von Michel F. und Marco Gottschalk organisiert - ein braunes Konzert statt. Marco Gottschalk tritt dabei mit seiner Band "Oidoxie" auf. Das Clubhaus befindet sich nur 1,5 Kilometer von dem Internetcafé entfernt.

Es sind auch Rechte aus Thüringen, NRW und Niedersachsen dort. U. a. auch Mitglieder der "Oidoxie Streetfighting Crew", welche wiederum die Security für die Band "Oidoxie" organisiert. Michel F. ist laut seiner späteren Aussage beim BKA für den Einlass zuständig. Auf Fotos identifiziert er Uwe Mundlos: "Das ist der, bei dem ich glaube, dass ich ihn in Kassel gesehen habe". Auch V-Mann Benjamin Gärtner gibt später bei der Polizei an, Mundlos dort gesehen zu haben.

Weitere Zeugen aus der rechten Szene Kassels sagen später unabhängig voneinander aus, sie haben Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf Neonazi-Konzerten im Raum Kassel gesehen. Den Zeitpunkt können sie jedoch nicht angeben.

4. April 2006. Mehmet Kubaşık wird in Dortmund ermordet. Die Polizei geht davon aus dass die Mörder Türken gewesen sein könnten oder mit krummen Geschäften der Opfer in Verbindung gestanden haben.

6. April 2006, 16:50 Uhr. Im "Tele-Internetcafé" halten sich 6 Personen auf. Im hinteren Teil des Cafés surfen zwei Jugendliche im Internet. Andreas Temme (Verfassungsschutz) logt sich für etwas mehr als zehn Minuten in dem Internetcafé unter einem Pseudonym in die Kontaktbörse iLove.de ein. Gibt dabei aber seine echte Handynummer an. Eeine schwangere Frau telefoniert in einer der Kabinen, einen Kinderwagen mit ihrem Kleinkind hat sie davor abgestellt. Ein Mann besetzt eine weitere Telefonzelle. Halit Yozgat sitzt auf einem Stuhl hinter der Theke und vertreibt sich die Zeit.

6. April 2006, ca. 17 Uhr. Im "Tele-Internetcafé" in der Holländischen Straße 82 in Kassel wird der Betreiber Halit Yozgat als mutmaßlich 9. Opfer des NSU mit einer Česká 83 Kaliber 7,65 Millimetererschossen. Zur Tatzeit befindet sich Yozgat nur zufällig noch im Internetcafé. Er muss zur Abendschule, er möchte sein Abitur nachholen. Das Café sollte zu dieser Zeit sein Vater beaufsichtigen. Dieser hat sich allerdings verspätet.

Ein oder zwei Unbekannte stürmen das Café, schießen Halit Yozgat zweimal in den Kopf, die Projektile bleiben stecken, Halit Yozgat sackt tot vom Stuhl. Seine Mörder verschwinden. Die Jugendlichen, die Frau, der Mann - sie alle hören die Knallgeräusche, identifizieren sie jedoch nicht als Schüsse. "Wie Luftballons, die zerplatzt sind", gibt der Mann später zu Protokoll. Er führt sein Telefonat fort, ebenso die Frau, auch die Jugendlichen bleiben vor den Computern sitzen.

17:01:40 Uhr. Andreas Temme loggt sich an seinem Computer aus, geht zum Tresen und hinterlegt eine 50-Cent-Münze auf den Tisch.

Nur wenige Minuten danach kommt Halit Yozgats Vater Ismail, der ihn ablösen möchte.

Vier der fünf Personen stellen sich umgehend als Zeugen zur Verfügung. Nach der fünften Person muss die Polizei zwei Wochen lang suchen. Dann findet sie heraus dass es sich um Andreas Temme, einen V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes, handelt.

Andreas Temme ist zur Tatzeit an einem Computer eingeloggt unter dem Pseudonym "wildman70" bei der Internet-Kontaktbörse iLove.de und bekommt laut eigener Aussage (im Gegensatz zu den anderen Zeugen) gaaar nix von den beiden Schüssen mit. Er will das Café kurz vor der Tat verlassen haben - obwohl er für eine halbe Stunde Internetnutzung bezahlt hat. Die Ermittler rekonstruierten ein Zeitfenster von 41 Sekunden in denen er das Café verlassen haben kann bevor Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt eingetroffen sind.

Das Gespräch mit der Polizei will er aus Angst vor der Entdeckung seiner Internet-Liebschaften nicht gesucht haben. Seine Ehefrau ist hochschwanger. Bei einer Hausdurchsuchung findet die Polizei neben Waffen und Munition auch Abschnitte aus Hitlers Buch "Mein Kampf" die mit einer Schreibmaschine abgetippt worden sind.

In der Nähe des Tatorts liegt zudem eine Moschee, in der Gläubige verkehren, die der Verfassungsschützer Temme als V-Männer führt. Zwei gute Gründe für ihn, seinen Besuch unter allen Umständen geheim zu halten.

Temme wird kurzzeitig festgenommen. Temme sagt, er habe sich vom Computer abgemeldet und, als er Yozgat nicht hinter dem Empfangstresen sitzen sah, eine 50-Cent-Münze auf den Tisch gelegt. Er habe aber beim Verlassen des Lokals weder den verblutenden Halit Yozgat hinter dem Tresen gesehen, noch die Blutstropfen darauf. Weil die Staatsanwaltschaft aber nur von einer "geringen Verdachtsstufe" ausgeht wird er nach 24 Stunden wieder aus dem LfV Hessen entlassen. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wird eingestellt.

Kurz nach der Tat führen mehrere Mitarbeiter des LfV Hessen Telefonate mit Temme, die im NSU-Prozess und dem Untersuchungsausschuss im Landtag von Hessen thematisiert werden. Zu diesem Zeitpunkt möchte Temme einem Kollegen nichts am Telefon erzählen und sorgt sich, „dass ja auch niemand außerhalb auch nur irgendwas darüber erfahren darf.“

Temme wird in jüngeren Jahren Offenheit für rechtes Gedankengut nachgesagt. In der Nachbarschaft wurde er offenbar "Kleiner Adolf" genannt. Diesen Spitznahmen will er jedoch erst aus den Medien erfahren haben. Er soll zu der Zeit mehrere V-Leute aus dem islamischen Bereich und einen Informaten in der Neonazi-Szene geführt haben.

Wie in anderen Fällen der NSU-Mordserie suchen die ermittelnden Behörden auch hier unter anderem nach einem Mann „südländischen Typs“, der zur Tatzeit vom Internetcafé quer über die vielbefahrene Holländische Straße in Richtung Kasseler Hauptfriedhof gelaufen sein soll. Halit Yozgats Vater betont gegenüber einem türkischstämmigen Polizisten, dass es einen ausländerfeindlichen Hintergrund geben müsse und die eigene Familie unschuldig sei. Er hält am 6. Mai in Kassel und am 11. Juni 2006 in Dortmund kurze Ansprachen auf Demonstrationen, die unter der Forderung „Kein 10. Opfer“ stehen und an der sich Angehörige weiterer Mordopfer der Ceska-Serie, Semiya Simsek und Familie Kubaşık, beteiligen.

Auch die seit Mitte 2005 eingesetzte BAO Bosporus, die mit der gesamten Ceska-Serie betraut war, suchte zunächst vor allem Verbindungen zwischen den Opfern, konzentrierte die Ermittlungen vorrangig in Richtung Waffen- oder Drogenhandel, Spiel- oder Wettschulden und ging verstärkt von der Möglichkeit aus, „dass die Opfer in Verbindung mit türkischen Drogenhändlern aus den Niederlanden standen.“[7] Allerdings erstellte der Profiler Alexander Horn nach dem Mord an Halit Yozgat für die BAO Bosporus eine operative Fallanalyse, in der er als Motiv der angenommenen zwei Täter Türkenhass vermutete. Diese Analyse erfuhr jedoch Widerspruch und führte zu keinen greifbaren Ergebnissen.

Juli 2006. Durch Presseberichte wird drei Monate nach dem Mordanschlag bekannt, dass ein Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes zur Tatzeit am Tatort war. Polizei und Staatsanwaltschaft werfen den Verfassungsschützern eine „Unterstützungshaltung für den TV“, den Tatverdächtigen Temme, vor.

Günther Beckstein (CSU/Innenminister von Bayern) schaltet sich in die Kontroverse ein. Beckstein verlangt wie die hessischen Strafverfolger, die Vernehmung der von Temme geführten V-Leute des Verfassungsschutzes. Volker Bouffier bleibt hart und verweigert deren direkte Vernehmung, um sie als „Quellen“ zu schützen.

17. Juli 2006.  In einer Sondersitzung des Innenausschusses am 17. Juli 2006 nennt es Bouffier "betrüblich" – insbesondere dann, wenn es auch der Minister erst aus der Zeitung erfährt.“ Tatsächlich ist er jedoch längst im Bilde. Wie Bouffier später öffentlich einräumen muss, weiß er spätestens seit dem 22. April vom Verdacht gegen den Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme.

August 2006. Bouffier bekommt Post von den Eltern des Mordopfers. In dem höflichen Brief baten die Eheleute Yozgart um ein persönliches Gespräch.  Dieser verweist darauf dass es sich um "ein laufendes Ermittlungsverfahren" handelt, "Mein Amt gebietet mir in diesem Stadium eine Zurückhaltung die ich durch ein persönliches Treffen mit Ihnen aufgeben würde".

Ein Mitarbeiter von Bouffier hatte in einem Vermerk für Bouffier geschrieben: "Die Polizei habe guten Kontakt zur Familie, hier kann verswucht werden, die tatsächlichen Beweggründe zu dem Schreiben und die wahren Intentionen der Eheleute Yozgat diskret zu erheben".

September 2006. Im Verlauf der Ermittlungen verweigerte Lutz Irrgang (Direktor des hessischen Verfassungsschutzes) der Mordkommission "Café" das Verhören von zwei Informanten des Verfassungsschutzes mit Verweis auf Quellenschutz: "Weil es sich nur um einen Mordfall der nicht wichtig genug ist dass der Verfassungsschutz der Polizei helfen muss".

Oktober 2006. Daraufhin bat offenbar Günter Beckstein (CSU - damals Innenminister von Bayern) Volker Bouffiert (CDU - damals Innenminister von Hessen) darum das Verhör zu ermöglichen. Bouffier lehnte wiederum mit Verweis "nach Abwägung aller Umstände" auf den Quellenschutz ab.

4. November 2011. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begehen Suizid. Die Mittäterin Beate Zschäpe setzt daraufhin die gemeinsame Zwickauer Wohnung in Brand und verschickt ein Bekennervideo der Taten an verschiedene öffentliche Einrichtungen und Medien. Außerdem finden die behördlichen Ermittler im Zwickauer Brandschutt verschiedene auf Kassel bezogene Aufzeichnungen. Auf der Festplatte eines Computers wird auch eine Skizze vom Innenraum des Ladens gefunden. Zudem hat der NSU vor dem Mord die Funkfrequenzen der Sicherheitsbehörden in Hessen recherchiert. Daraufhin wird auch der Mord an Yozgat dem NSU zugeordnet.

2012. Temme arbeitet im Regierungspräsidium in Kassel und gilt als rehabilitiert.

Februar 2012. Halit Yozgats Vater Ismail Yozgat spricht im Namen der Angehörigen der Mordserie bei der zentralen Gedenkveranstaltung der deutschen Bundesregierung im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Er bittet darum, die Holländische Straße, in der sein Sohn geboren und ermordet worden ist, in Halit-Straße umzubenennen. Außerdem regt er an, dass im Namen der Opfer der Mordserie eine Stiftung für Krebskranke gegründet werden solle und alle angebotenen finanziellen Hilfen für die Hinterbliebenen in diese Stiftung fließen sollten. Der Vorschlag zur Umbenennung der Straße löst in Kassel eine kontroverse Debatte aus, in deren Verlauf sie schließlich abgelehnt wird. Stattdessen wird beschlossen, dass ein Platz sowie eine Straßenbahnhaltestelle in Kassel zum Gedenken an Yozgat seinen Namen tragen sollen. Hiergegen gibt es Proteste, da diese Entscheidung nicht als angemessen gesehen wird. Der Vater des Opfers bezeichnet die Umbenennung später als einen wichtigen Schritt und fordert ein regelmäßiges Gedenken zum Todestag seines Sohnes.

6. April 2012. Am sechsten Todestag, dem ersten Todestag nach Bekanntwerden der Täter, findet eine Gedenkveranstaltung statt, bei der der Kasseler Oberbürgermeister Bertram Hilgen Blumen am Tatort niederlegt. Zu der Veranstaltung, an der neben der Familie auch der türkische Generalkonsul Ilhan Saygili teilnimmt, erscheinen 400 Menschen.

25. Mai 2012. Es wird bekannt, dass ein Sektionsassistent des pathologischen Institutes des Klinikums Kassel ein Handy aus der Hosentasche des getöteten Yozgat entwendet hat. Der Mitarbeiter räumt den Diebstahl ein. Er habe „aus Neugier“ das Kühlfach in der Gerichtsmedizin geöffnet und dem noch halb bekleideten Toten das Mobiltelefon aus der Hosentasche genommen. Er habe mit dem Telefon „rumgespielt“ und auch die SIM-Karte des Toten ausgetauscht. Barbara John, die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer der Mordserie nennt den Vorgang „skandalös und unfassbar“. Sie fragt sich, warum die Polizeibeamten das Handy nicht sofort am Tatort sicherstellten. Das deute auf eine weitere Ermittlungspanne hin. Während der Vernehmung gibt der Pathologie-Mitarbeiter zu, sich seit Jahren am Eigentum Verstorbener vergriffen zu haben. Zu seiner Beute zählen unter anderem Goldringe, Silberketten, Bargeld und Mobiltelefone, sogar Herzschrittmacher.

Halitplatz in Kassel
1. Oktober 2012. Zum Gedenken an Halit Yozgat wird in Kassel der Halitplatz eingeweiht. Die Benennung des zuvor namenlosen Platzes durch den Kasseler Oberbürgermeister Bertram Hilgen findet im Beisein des türkischen Botschafters Hüseyin Avni Karslıoğlu, des hessischen Justizministers Jörg-Uwe Hahn sowie der Eltern des Opfers statt. Bei der Gedenkfeier wird ein Grußwort von Bundespräsident Joachim Gauck verlesen.

Der Halitplatz (Lage) umfasst eine etwa 500 m2 große, zum Teil begrünte Freifläche vor dem südöstlichen Nebeneingang zum Kasseler Hauptfriedhof, an der Kreuzung Holländische Straße, Mombachstraße und befindet sich etwa 100 m vom Haus in der Holländischen Straße 82, in dem Halit Yozgat ermordet wurde.

Straßenschild Halitplatz in Kassel
Auf dem Platz wird auf Wunsch der Familie Yozgat ein Kirschbaum gepflanzt dessen Früchte symbolisch an die guten Taten des Ermordeten erinnern sollen. Zudem werden ein Straßenschild und eine Stele mit einer Gedenktafel aufgestellt. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich Kassels Oberbürgermeister mit den Städten Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund und Heilbronn zuvor darauf verständigt, dass an allen Orten, an denen Menschen zu Opfern der Rechtsterroristen geworden waren, Gedenktafeln in ähnlicher Form mit einer einheitlichen Botschaft und der namentlichen Nennung aller zehn Opfer aufgestellt werden sollten.

Ex-Innenminister Bouffier meint im Untersuchungsausschuss dass er "diese Demo" gegen Rassismus nach dem Mordanschlag zur Kenntnis genommen habe, es aber falsch sei, sich als Minister in Ermittlungen einzumischen.

November 2012. Die Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen Beate Zschäpe als letzte Überlebende der Terrorzelle und vier Gehilfen unter anderem wegen des Mordes an Yozgat. Das Strafverfahren vor dem Oberlandesgericht München begann

Stele mit Gedenktafel
März 2013. Das Mahnmal wird mit schwarzer Farbe beschmiert.

Das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz veröffentlichen eine Liste mit den Namen von 129 möglichen Unterstützern des NSU. Darunter befindet sich auch der Neonazi Benjamin Gärtner aus der Umgebung von Kassel, der als V-Mann für den hessischen Verfassungsschutz arbeitete und dessen V-Mann-Führer Andreas Temme war. Beide hatten kurz vor und nach der Mordtat miteinander telefoniert.

Immer wieder kommen Vermutungen über einen Zusammenhang der Anwesenheit Temmes beim Mord mit Benjamin Gärtners V-Mann-Tätigkeit auf. Gärtner soll nach Behördenangaben dafür zuständig gewesen sein, Informationen über die rechtsgerichtete Splitterpartei Deutsche Partei zu übermitteln, war dort aber offenbar kein Mitglied, wie im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss im November 2016 erörtert wird. Experten wie Andrea Röpke vermuten, dass Gärtner vielmehr wegen seiner Verbindungen zur rechtsextremen und gewaltbereiten Szene (Blood & Honour Nordhessen und Combat 18 Dortmund) V-Mann war, die möglicherweise im Kontakt zum NSU stand.

Gärtners Stiefbruder Christian W. gilt als Aktivist der inzwischen verbotenen rechtsextremistischen „Blood & Honour“ und soll Verbindungen zur rechten Szene Thüringens gepflegt haben.

Mai 2013. Das Strafverfahren gegen Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München beginnt. In dem Gerichtsverfahren tritt die Familie Yozgat als Nebenkläger auf.

Die Familie wird von mehreren Anwälten vertreten, die die offizielle Version der Ereignisse nicht als überzeugend betrachten und insbesondere die Rolle der hessischen Landesbehörden im Zusammenhang mit dem am Tatort anwesenden Verfassungsschützer Andreas Temme als nicht aufgeklärt ansehen. Sie erstreiten Zugang zu Akten des hessischen Innenministeriums, durch die sich die Abläufe des Tattags und die anschließenden Kontakte Temmes minutengetreu rekonstruieren lassen. Zahlreiche von der Kriminalpolizei im Jahr 2006 abgehörten Telefonate aus dem LfV, insbesondere mit Temme, die deshalb erst dadurch ausgewertet werden können, lassen die Tatumstände für die Anwälte völlig anders aussehen, als es die Landesregierung bisher dargestellt und durchgesetzt hat, unter anderem mit Aussagebeschränkungen im Prozess. Insbesondere eine mögliche Nähe Temmes zu Rechtsextremen und die schonende Behandlung Temmes durch die Behörden nach dem Mord werfen aus Sicht der Opfervertreter Fragen auf.

17. Juni 2013. Temme war u. a. V-Mann-Führer von Benjamin Gärtner (GP 389), einem Rechtsextremisten aus Kassel der wiederum auf dem Konzert der Band "Oidoxie" am 18. März. 2006 Uwe Mundlos identifizierte.

Am Tag des Mordanschlags führte Temme mit seinem Informanten um 13 Uhr 06 ein Gespräch von 17 Sekunden. Um 16 Uhr 10 rief Temme auf dem Handy von G. an. Das Gespräch dauerte 10 Minuten. Später können sich die beiden an den Inhalt des Gesprächs "nicht mehr erinnern". Bis heute gibt es zu Temme 37 Aktenordner. Zu dem Inhalt des Gesprächs ist jedoch nichts bekannt.

22. Oktober 2013. Im Schutt des Zwickauer Unterschlupfes wurde neben vielen anderen Dingen das Asservat 2.7.30 gefunden. Dabei handelt es sich um einen verkohlten Stadtplan von Kassel. Falk, 10. Auflage von 2002 bis 2006 mit handschriftlichen Markierungen und Notizen. Es gibt Kreise mit Nummern, Stern oder der handschriftlichen Notiz "Ali" an Positionen wo sich Moscheen, Restaurants oder Bäckereien, meist mit türkischen Namen befanden.

Die Anwälte von der Hinterbliebenen von Halit Yozgat wollen mit neuen Ermittlungen beweisen, dass sämtliche Markierungen (bis auf eine) möglicher Ziele die dem NSU zugeschrieben werden an von Andreas Temme genutzten Fahrstrecken oder anderen mit seiner Person in Zusammenhang stehenden Örtlichkeiten liegen. Die Strecken hat Temme bei zwei Vernehmungen im Jahr 2006 selbst angegeben. Dazu fordern die Anwälte noch, die bisher nur bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe einsehbaren Akten zur Telefonüberwachung von Temme dem Gericht zu überstellen. Bisher lehnt die Bundesanwaltschaft das aus "Gründen des Persönlichkeitsrechts" ab.

Gedenktafel mit den Namen der zehn Opfer, sowie Datum und
Ort ihrer Ermordung und einer gemeinsamen Erklärung der
Städte Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund,
 Kassel und Heilbronn.
7. April 2014. In der Nacht zum 7. April 2014, nach der Gedenkveranstaltung zum achten Todestag des Opfers, wird das Mahnmal von unbekannten Tätern mit einer schwarz-braunen Substanz übergossen. Die von der Stadt veranlasste Reinigung erfolgt noch am gleichen Tag.

15. April 2014. Im Saal A101 im Oberlandesgericht von München liest İsmail Yozgat am 106. Verhandlungstag im NSU-Prozess Fragen an Andreas Temme ab:

Temme will von dem Mord, der den mutmaßlichen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zur Last gelegt wird, aber nichts mitbekommen haben. Ob er die Blutstropfen auf dem Tresen nicht gesehen habe, will der Vater des Ermordeten von Temme wissen. "Nein, das ist mir nicht aufgefallen", sagt der.

Ismail Yozgat kann nicht glauben, dass Temme seinen Sohn nicht unter dem Tisch liegen sah. Temme müsse ihn gesehen haben. Yozgat steht auf und geht durch den Gerichtssaal. Mit ausladenden Armbewegungen will er veranschaulichen, wie es damals aussah in dem Internetcafé und wie der Weg von Temme zum Ausgang verlaufen sein muss - vorbei an dem rund 70 Zentimeter hohen Tisch, der als Tresen diente, vorbei also an dem Tisch, unter dem Yozgats 21-jähriger Sohn lag, der an jenem Tag gegen 17 Uhr von zwei Kugeln aus einer Pistole Ceska 83 in den Kopf getroffen wurde und noch am Tatort starb. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl bittet Ismail Yozgat eindringlich, wieder seinen Platz einzunehmen.

Ob er sich noch daran erinnere, dass er manchmal zwei Stunden im Internetcafé geblieben sei, dass ihm Kaffee angeboten worden sei, will Ismail Yozgat noch von Temme wissen. Zuletzt hat T. vor Gericht betont, er sei dort zwar häufiger gewesen, aber zumeist nur für ein paar Minuten. Er könne sich nicht daran erinnern, dass er "so lange" dort gewesen sein soll. Ismail Yozgat fasst seine Ausführungen über Temme, den er den Ausführungen des Dolmetschers zufolge mal duzt und mal siezt, so zusammen: "Es tut mir leid, aber ich glaube dir überhaupt nicht."

Bei einer Durchsuchung in seiner Wohnung stellten Fahnder unter anderem mehrere Pistolen, ein Gewehr, Munition und einen Baseballschläger sicher. Auch Abschriften aus Hitlers Machwerk "Mein Kampf" gehören zu den Fundstücken, außerdem ein Buch über Serienmorde. Er habe es "bis heute nicht durchgelesen", sagte Temme. Durch seine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft der Polizei sei er auf das Buch aufmerksam geworden, er habe es damals in einer Werbeanzeige gesehen.

Ob er in seiner Jugend ein Skinhead oder ein Neonazi war, fragt ein Vertreter der Nebenkläger. "Nein", antwortet Temme. Ob ihm bekannt sei, dass er in seiner Nachbarschaft einst "Klein-Adolf" genannt wurde, lautet die nächste Frage. "Ich weiß nicht, wie jemand darauf kommt, mich so zu nennen", sagt Temme.

Die Yozgat-Anwälte stellen Beweisanträge, mit denen sie belegen wollen, dass Temme "über exklusives Täter- bzw. Tatwissen" verfügt, welches er gegenüber einer damaligen Kollegin am 10. April 2006 preisgab, ehe es durch Medienberichte öffentlich zugänglich war.

Am Ende bekommt Temme das Formular für seine Auslagen und geht.

20. Februar 2015. Der Originalmitschnitt eines am 9. Mai 2006 abgehörten Telefonats wird öffentlich bekannt, das Temme mit dem damaligen LfV-Geheimschutzbeauftragten Gerald-Hasso Hess führte und das ihn massiv belastet: Temme war demnach 2006 vorab über den Mord an Halit Yozgat informiert. Er sei wie bekannt am 6. April 2006 zum Tatzeitpunkt im Internetcafé gewesen, habe aber schon vorher konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Opfer und den Tätern erhalten und sich deshalb in dem Internetcafé aufgehalten. In dem Telefonat hatte der LfV-Geheimschutzbeauftragte Hess seinen Kollegen Temme auf die Vernehmung durch die Polizei vorbereitet. Dann sagte er einen Satz, der nur auf den originalen Abhörbändern zu hören war und in der ursprünglichen Polizeiabschrift des Telefonats nicht mehr erscheint: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann bitte nicht vorbeifahren.“

1. Juli 2015. Auf Antrag von Nebenklageanwälten wird Temmes Frau Eva S. und er selbst gehört. Konkreter Anlass für die Ladung ist die Aussage eines Zeugen, der bei Temme eine Plastiktüte mit einem schweren Gegenstand gesehen haben will. Dabei hätte es sich um die Mordpistole handeln können.

Beweisstück ist ein abgehörtes Telefonat, das S. mit ihrer Schwester geführt hat. Das Thema Plastiktüte kommt in dem Telefonat vor, doch ohne Hinweis, dass Temme. überhaupt eine bei sich führte. Das Ergebnis: „Juristisch lässt sich daraus nichts machen.“ Ansonsten bringt das Gespräch „wenig Neues an den Tag – sieht man mal von der Verärgerung der Beamtengattin über ihren Ehemann ab“, urteilt Oliver Bendixen vom Bayerischen Rundfunk. Peinliche Details aus der Aufzeichnung hätte man ihr „ruhig ersparen können“.

Die Peinlichkeiten: Temme hat in dem Internetcafé mit einer fremden Frau gechattet, während seine Frau schwanger zu Hause war. Nun hielt S. ihrem Mann Standpauken für sein Verhalten, am Telefon benutzte sie rassistische Ausdrücke. Als unerwarteten Augenblick des Tages bezeichnet Bendixen eine Stellungnahme von Ismail Yozgat, dem Vater des Opfers. Dieser fordert, dass das Gericht den Tatort in Augenschein nehmen solle und bezeichnete Temme als Lügner.

21. Dezember 2015. Im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss sagt der ehemalige Außendienststellenleiter des hessischen LfV Frank-Ulrich Fehling aus, dass Temme damals eine Vielzahl dienstrechtlicher Fehler begangen und ihn belogen habe.

Februar 2016. Der NSU-Untersuchungsausschuss Hessen befragt Benjamin Gärtner (V-Mann: Deckname: "Gemüse") zu Stephan Ernst und seinen Kontakten zu anderen Rechtsextremen. Gärtner kennt ihn nur unter dem Spitznamen „NPD-Stephan“ und macht keine näheren Angaben zu ihm. "Ich hab früher ziemlich viel getrunken, das darf man nicht vergessen". Seinen Nachnamen habe er angeblich nicht gekannt. So dass Ernst nicht zum Umfeld des NSU gezählt wird.

Der V-Mann Benjamin Gärtner wurde von dem Verfassungsschützer Andreas Temme geführt. Temme wiederum war bei dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel am Tatort im Internetcafe oder in der unmittelbaren Umgebung. Er stand zeitweise unter Mordverdacht. Temme wurde nach den Vorgängen versetzt: erst in die Pensionskasse, dann ins Umweltamt des Kasseler Regierungspräsidiums, der Behörde, die Walter Lübcke leitete. 

Der Name Stephan Ernst taucht dann auch im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses in Hessen auf. Er wird von Vertretern der Linksfraktion in einem Beweisantrag als ein Beispiel für gewalttätige Kasseler Neonazis erwähnt. Dabei geht es offenbar auch um eine Aussage einer Sachbearbeiterin des Landesamts für Verfassungsschutz über gewaltbereite Rechtsextremisten wie Stephan Ernst in Hessen und deren Verbindungen zu Rechtsextremen in anderen Bundesländern. Von dem Gremium wird er als "gewaltbereiter Rechtsextremist" geführt.

Der hessische Verfassungsschutz gibt das Protokoll der V-Mann-Befragung von 2016 und seine Kenntnisse von möglichen Kontakten Ernsts nicht frei. Ernsts Akte im Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) wird aus rechtlichen Gründen („Löschmoratorium“) für Ermittlungsbehörden für 120 Jahre gesperrt, aber nicht gelöscht.

Juli 2016. Das Oberlandesgericht München erklärt, Temmes Darstellung Glauben zu schenken obwohl sich Temme bei seinen Aussagen im NSU-Prozess im Vergleich zu seinen früheren Äußerungen in den NSU-Untersuchungsausschüssen des Bundestages und des hessischen Landtages mehrfach widersprochen hat. Während die Schüsse fielen, habe sich Temme im hinteren Teil des Internetcafés aufgehalten, es sei durchaus möglich, dass er von dem Mord tatsächlich nichts mitbekam und Yozgat beim Verlassen des Raums übersah.

Dezember 2016. Im Rahmen des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages  wird bekannt, dass Andreas Temme möglicherweise zwei weitere V-Personen aus der rechtsextremen Szene – zeitweilig und vertretungsweise – führte, was weitere Fragen aufwirft, ob Temmes Anwesenheit beim Mord mit diesen Kontakten zusammenhängen könnte.

März 2017. Die hessische Landtagsfraktion der Linkspartei stellt Strafanzeige wegen uneidlicher Falschaussage gegen Temme. Im Dezember 2016 ist eine schriftliche Dienstanweisung vom März 2006 aufgetaucht, die V-Mann-Führer aufforderte, ihre V-Leute zur Mordserie zu befragen und die Temme offenbar unterschrieben hatte, während er im ersten Bundestags-Untersuchungsausschuss 2012 behauptet hatte, dienstlich keine vorherige Kenntnis der Mordserie gehabt zu haben. Das Ermittlungsverfahren gegen Temme wird im Mai 2018 eingestellt, weil ihm kein Vorsatz nachgewiesen werden kann.

6. April 2017. Die Gruppe Forensic Architecture von der Londoner Goldsmith University hat den Mord nachgestellt. Das Team um den Architekten Eyal Weizman besteht aus Wissenschaftlern, Filmemachern, Designern und Anwälten. Hauptauftraggeber sind die Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen oder internationale Strafverfolgungsbehörden. Die Gruppe untersucht Verbrechen in syrischen Kriegsgebieten oder Drohnenangriffe im Irak. Für den NSU-Mord wurde das Team von der Initiative 6. April sowie dem Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen beauftragt.

Das Forscherteam stützt sich bei seiner Arbeit auf öffentlich zugängliche Dokumente. Im Fall des Kasseler Mords etwa auf Temmes Zeugenaussage im NSU-Prozess sowie ein Video, in dem Temme vor Ort für die Polizei nachstellte, wie er sich am Nachmittag des 6. April durch das Internetcafé bewegt haben will. Das Video soll zeigen, wie er den Mann hinter der Kasse suchte, aber nicht fand.

Weiter werteten die Forscher Polizeiakten, Berichte, Zeugenaussagen, Fotos vom Tatort und die Login-Daten von Temmes Computer aus. Das Team befragte auch selbst Zeugen und nahm Vermessungen vor Ort vor. Anhand des Materials baute das Team im März in Berlin ein detailgetreues Modell des Internetcafés nach und spielte diverse Szenarien durch, um den Nachmittag möglichst genau nachzuzeichnen.

Die Spezialisten konzentrierten sich bei ihrer Arbeit auf folgende Fragen: Konnte Temme die Leiche hinter dem Empfangstresen sehen, als er dort eine 50-Cent-Münze hinterlegte? Ist es möglich, dass Temme im hinteren Teil des Internetcafés keinen Schuss gehört hat? Weiter sind sich die Forscher sicher, dass der Schuss einer Waffe – im Fall der NSU-Morde eine Česká 83 – in geschlossenen Räumen einen scharfen Schießpulvergeruch hinterlässt. Kann es also möglich sein, dass Temme auch diesen nicht wahrnahm? Zumal er gegenüber der Polizei aussagte, er kenne sich mit Waffen aus und könne den Geruch verbrannten Schießpulvers erkennen.

Ihre vorläufigen Ergebnisse präsentieren die Forscher auf einer Pressekonferenz in Kassel. Sie kommen zu dem Schluss, dass Temme den am Boden liegenden Yozgat gesehen haben muss: Anhand des Videos simulierte eine Testperson, ausgestattet mit einer Go-Pro-Kamera, Temmes Bewegungen – insbesondere des Kopfes. Im Anschluss errechneten die Wissenschaftler mit einer Bewegungssoftware seinen jeweiligen Blickwinkel. Die Ergebnisse zeigen, dass Temme Yozgat in dem Moment gesehen haben muss, als er die Münze auf den Empfangstresen legte.

Die Auswertung der olfaktorischen Experimente steht noch aus, die akustischen indes belasten Temme ebenfalls schwer. Bei dem Modellversuch in Berlin spielten die Forscher die Schüsse einer Česká 83 vom Band ab. Die mit einem Schalldämpfer verwendete Waffe hatte das Team zuvor unter Aufsicht von Ballistikexperten in den USA abgefeuert. In dem nachgebauten Internetcafé war der Schuss der Waffe mit mindestens 83 und maximal 86 Dezibel im hinteren Teil des Raumes deutlich zu hören. Zum Vergleich: Ein vorbeifahrender Güterzug in 15 Metern Entfernung sei nach Angaben der Forscher genauso laut.

Juli 2017. Ein interner Bericht des Landesamts für Verfassungsschutz zu den Vorgängen um Andreas Temme unterliegt einer Sperrfrist mit der ungewöhnlichen Länge von 120 Jahren.

September 2017. Im hessischen Untersuchungsausschuss wird als Zeugin Corryna G. vernommen, die jahrelang enge Kontakte zur rechtsextremen Szene pflegte und aussagt, in den Monaten vor dem Mord an Yozgat mehrfach dessen Internetcafé besucht zu haben. Die Bundesanwaltschaft nimmt dazu Ermittlungen auf, insbesondere zu einer Zellengenossin G.s im offenen Vollzug, die ihr das Internetcafé empfohlen haben soll. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses erhoffen sich von dieser Spur Aufklärung über mögliche lokale Helfer des NSU und über die Opferauswahl.

Herbst 2017. Eine Initiative von Landesbeamten fordert die Suspendierung Temmes, der weiterhin als Beamter des Landes beschäftigt ist.

Juli 2018. Das Gerichtsvefahren endet mit einem Urteil. Darin wird Beate Zschäpe als Mittäterin unter anderem des von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangenen Mordes an Yozgat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ralf Wohlleben und Carsten Ludwig Schultze werden wegen der Beschaffung der Tatwaffe auch dieses Mordes zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

2. Juni 2019. Walter Lübcke wird kurz nach Mitternacht leblos auf der Terrasse seines Hauses im Wolfhagener Ortsteil Istha von einem Angehörigen aufgefunden. Er verstirbt trotz Reanimationsversuchen. Gegen 2:35 Uhr bestätigt die Kreisklinik Wolfhagen seinen Tod. Anschließend wird eine Obduktion angeordnet, bei der in seinem Kopf ein Projektil einer Kurzwaffe gefunden wird, das aus kurzer Distanz abgeschossen worden ist. Da die Tatwaffe bislang nicht gefunden wurde und es keine Hinweise auf einen Suizid gibt, wird von einem Tötungsdelikt ausgegangen. Eine Sonderkommission des LKA Hessen und des Polizeipräsidiums Nordhessen ermittelt gegen unbekannt.

Die Tötung Lübckes wird in sozialen Netzwerken von Nutzern des rechten Spektrums vielfach wohlwollend kommentiert: "Die Drecksau hat den Gnadenschuss bekommen ! RESPEKT !", schreibt der Nutzer "Franz Brandwein" auf YouTube. "Iceman DJ" ergänzt: "Eine widerliche Ratte weniger. Fehlen noch die anderen." Und auf Facebook heißt es beispielsweise: "Selbst schuld, kein Mitleid, so wird es Merkel und den anderen auch ergehen."

In den Medien daraufhin auch immer wieder auf den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und die Rote Armee Fraktion (RAF) verwiesen. Nur etwa 20  Kilometer vom Wohnhaus Walter Lübckes entfernt liegt das Internetcafé, in dem Halit Yozgat am 6. April 2006 vom NSU ermordet wurde.

19. Juni 2019. LKA und Berliner Staatsanwaltschaft ermitteln nach Morddrohungen gegen die NRW-Politiker Henriette Reker und Andreas Hollstein. In den E-Mails wird ein Zusammenhang mit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hergestellt. Es heißt unter anderem wörtlich: "Die Phase bevorstehender Säuberungen wurde mit Walter Lübcke eingeleitet."

Es besteht der Verdacht, dass die aktuellen Drohungen Teil einer bundesweiten Serie sind. Die Behörden prüfen nach eigenen Angaben, ob ein Zusammenhang zu anderen bundesweiten Drohschreiben mit rechtsextremistischem Hintergrund besteht. Seit Monaten ermitteln die Berliner Strafverfolgungsbehörden gegen einen oder mehrere Urheber von Drohmails. Diese sind mit "Nationalsozialistische Offensive", "NSU 2.0", "Wehrmacht" oder "Staatsstreichorchester" unterschrieben. Bis April 2019 sollen es etwa 200 solcher E-Mails gewesen sein.

Es gibt Berichte, die Akte beim Landesamts für Verfassungsschutz könne gelöscht worden sein. Ein Sprecher des Verfassungsschutzes widerspricht diesen Berichten jedoch. Das Landesamt für Verfassungsschutz weist darauf hin, dass seit Ende Juli 2012 ein restriktiver Umgang für Akten gelte, die einen Bezug zu den Verbrechen der rechtsextremen Terrorzelle NSU haben oder haben könnten. Seither seien im Landesamt auch keine entsprechenden Daten gelöscht oder Akten vernichtet worden.

In der digitalen Terror-Datei der NATO ( NABIS-System) gab es ebenfalls einen Eintrag über ihn - doch der wurde laut "BILD"-Zeitung im Jahr 2015 gelöscht. Warum, ist völlig unklar. Denn weil E. nach Übergriffen bei einer rechtsextremistischen Demo in 2009 verurteilt worden sei, hätte man die Daten für weitere zehn Jahre erhalten können.

Der CSU-Rechtsexperte Volker Ullrich fordert die hessische Landesregierung auf alle gesperrten Verfassungsschutzakten im Zusammenhang mit dem NSU freizugeben. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Opfer um den Kassler Regierungspräsidenten handelt und in Kassel Halit Yozgat 2006 vom NSU ermordet wurde, verbietet sich eine weitere geheime Einstufung dieser Akten“. Andreas Temme, damals Mitarbeiter bei dem Inlandsgeheimdienst, war bei dem Mord mit im Laden oder in der unmittelbaren Umgebung. Temme wurde nach den Vorgängen versetzt: erst in die Pensionskasse, dann ins Umweltamt des Kasseler Regierungspräsidiums, der Behörde, die Lübcke leitete. Außerdem soll dem Bericht zufolge einer der ehemaligen V-Männer, die Temme in seiner Zeit beim Geheimdienst akquiriert hat, den Tatverdächtigen Stephan Ernst gekannt haben. In dem Bericht soll geschildert sein, welche Rolle Temme bei Yozgats Ermordung spielte. Möglicherweise fällt darin auch der Name des nun Tatverdächtigen Stephan Ernst, vielleicht werden auch Bezüge zum NSU dargestellt. Das brisante Dokument bleibt allerdings für 120 Jahre unter Verschluss bis zum Jahr 2134.

27. Juni 2019. Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke gibt es Durchsuchungen. Ermittler finden einen Großteil der Waffen in einem Erddepot auf dem Gelände seines Arbeitgebers. Insgesamt handelt es sich um fünf Waffen. Das Versteck befand sich an einer uneinsehbaren Stelle nahe einem Zaun.

Bei dem mutmaßlichen Vermittler handelt es sich um Markus H., einen Mann aus Kassel, der mutmaßliche Verkäufer Elmar J. stammt aus dem Kreis Höxter in Nordrhein-Westfalen. Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen sie im Zusammenhang mit der Tatwaffe wegen Beihilfe zum Mord. Die beiden werden vorläufig festgenommen. Am Abend kommen sie in Untersuchungshaft.

Bei der Durchsuchung der Wohnung von Markus H. wurden auch NS-Devotionalien sichergestellt. Markus H. war zudem bei der Prügelattacke im Jahr 2009 dabei.

Auf einer deutschen Seite "für Jäger, Schützen und Angler" verkaufte H. laut ZEIT insgesamt 480 Produkte. In manchem Monat versorgte er demnach bis zu 18 Kunden mit Waffen und Zubehör. H. verkaufte im Internet meistens Gewehre und Zubehör, seine letzten Verkäufe waren Waffenzubehör für Pistolen. Im Mai dieses Jahres - kurz vor dem Mord an Walter Lübcke - stoppte er seinen Waffenhandel plötzlich. Sein Anbieterprofil in dem Shop, ist mittlerweile inaktiv.

H. gehört seit Jahren zur Kasseler Neonazi-Szene und ist 2006 im Zusammenhang mit dem Mord an Halit Yozgat als Zeuge vernommen worden. Markus H. war damals ungewöhnlich oft auf einer Internetseite der Polizei, die sich mit der Tat befasste. 2006 hat H. erklärt, dass er in einem Haus mit einer türkischen Familie wohne, deren Sohn eng mit Halit Yozgat befreundet gewesen sei. Er habe Yozgat einmal zufällig in der Imbissbude seines Vermieters kennengelernt, eines Türken, mit dessen Sohn er in gutem Kontakt stand. Von diesem habe er auch von dem Mord an Yozgat erfahren und sich immer wieder "nach den neuesten Entwicklungen in dieser Mordsache" informiert.

In dem Haus wurde H. in der vergangenen Woche festgenommen. Der Polizeibeamte, der die Vernehmung im Yozgat-Mordfall geführt hat, soll damals nicht vermerkt haben, dass H. der rechten Szene angehört. E. und H. sollen beide an dem Angriff auf die DGB-Kundgebung in Dortmund im Jahr 2009 beteiligt gewesen sein.

Laut ZEIT ist Markus H. zudem in den Ermittlungen gegen den NSU-Helfer Ralf Wohlleben aufgetaucht. Als die Beamten des Bundeskriminalamts den Computer Wohllebens durchforsteten, stießen sie auch auf die gesamten Einträge eines rechten Internetforums. Ein Chateintrag aus dem Jahr 2005 dürfte dabei von Markus H. stammen, der mit der E-Mail-Adresse kalashnikov-76@lycos.de angemeldet war. 1976 ist das Geburtsjahr von H. Er nannte sich damals Stadtreiniger und bedauerte, dass "es nicht mehr so ist wie anfang der 90ziger jahre", als man in Österreich ab 18 ohne Waffenbesitzkarte Waffen kaufen konnte. Bei dem Forum handelte es sich um die Plattform des Freien Widerstands Kassel, einer militanten Kameradschaft, der auch Markus H. über Jahre hinweg angehört haben soll.

Laut Informationen des ARD-Magazins Panorama hat Markus H. unter dem Pseudonym "Stadtreiniger" in diesem Forum auch den Satz gepostet: "Wenn ich mir das so recht überlege, sollte es wieder eine Reichskristallnacht geben." Dabei soll er auch eine gewisse Nähe zum Gedankengut aus der "Reichsbürger"-Szene offenbart haben.

Im Jahr 2006 ist H. den Sicherheitsbehörden aufgrund von "Sieg Heil"-Rufen und dem Zeigen des Hitlergrußes in einer Kneipe aufgefallen. Dafür wurde er später zu einer Geldstrafe verurteilt. Wie aus dem Umfeld von Stephan Ernst verlautet, soll Markus H. bis in die jüngste Zeit Kontakt zu dem mutmaßlichen Täter gepflegt haben.

„Wir gehen davon aus, dass die beiden Beschuldigten von der rechtsextremistischen Gesinnung des Stephan Ernst Bescheid wussten“, sagt der Sprecher des Generalbundesanwalts. Sie hätten es auch für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, dass Stephan Ernst die Waffe für ein politisch motiviertes Verbrechen einsetzen werde. Geprüft wird jetzt, ob die Waffen bereits bei vorherigen Straftaten verwendet wurden. Sie werden derzeit kriminaltechnisch untersucht.

Ab 2020. Die Stadt Kassel möchte den so genannten „Kasseler Preis als Zeichen gegen Rassismus, Ausgrenzung, Extremismus, politisch motivierte Gewalt und Antisemitismus“ verleihen. Mit dem neuen Preis, so heißt es, sollen wissenschaftliche Arbeiten oder Initiativen ausgezeichnet werden, die sich „mit Extremismus, Rassismus und Antisemitismus auseinandersetzen“.

9. Juni 2020. Das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen muss über mögliche Interventionen Volker Bouffiers im Fall des Ex-Verfassungsschützers Andreas Temme zu seiner Zeit als Innenminister Auskunft geben, Dies berichtet die Hessenschau. Sie zitiert aus einem am selben Tag veröffentlichten Beschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden aus dem hervorgehe, dass das Gericht dem Eilantrag eines Journalisten in dieser Sache stattgegeben und das Landesamt dazu verpflichtet habe, die von ihm gestellten Fragen zu beantworten (AZ: 2 L 2032/19.WI). Der Journalist möchte erfahren, wie oft Volker Bouffier (CDU) als Innenminister bei den Ermittlungen zum Kasseler NSU-Mord interveniert habe. 

Morde die dem NSU zugerechnet werden
Theodoros Boulgarides, Michèle Kiesewetter, Habil KılıçMehmet Kubaşık, Abdurrahim ÖzüdoğruEnver Şimşek, Süleyman Taşköprü, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Halit Yozgat

Bilder aus Wikimedia Commons
Holländische Straße 82 in Kassel, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic, Urheber: Kai Oesterreich
Halitplatz in Kassel, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany, Urheber: Benutzer:Hafenbar
Straßenschild Halitplatz in Kassel, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany, Urheber: Benutzer:Hafenbar
Stele mit Gedenktafel, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany , Urheber: Benutzer:Hafenbar

Quellen
05.07.2019, Frankfurter Rundschau, POLITIKER SIND ENTSETZT, Fall Lübcke - Gibt es Verbindungen zum NSU und dem Mordfall Halit Yozgat?
05.07.2019, Frankfurter Rundschau, ÜBERBLICK ÜBER ERMITTLUNGEN, Fall Lübcke: Gibt es Verbindungen zum Mordfall Halit Yozgat?
01.07.2015, Zeit, Peinlichkeiten statt Beweisen – Das Medienlog vom Mittwoch, 1. Juli 2015
21.04.2015, Tagesspiegel, Hessens Opposition fordert NSU-Ausschuss
15.04.2015, Spiegel, Vater eines Mordopfers beim NSU-Prozess, Die Abrechnung des Ismail Yozgat
22.10.2013, Welt, "Kleiner Adolf", Spähte Verfassungsschützer NSU-Anschlagsziele aus?
22.10.2013, Tagesschau, NSU-Mord in Kassel, Verfassungsschützer unter Verdacht
25.09.2013, Zeit, Prozess, NSU-Mörder wagten hohes Risiko
25.09.2013, Spiegel, Zeugenvernehmung im NSU-Prozess, Im Angesicht des Verbrechens
24.06.2013, Stern, Kontakte von Zschäpe, Party machen mit den NSU-Terroristen
17.06.2013, Welt, Neonazis, Der NSU und seine Kontakte in den Westen
16.11.2012, Sueddeutsche, Prozess gegen NSU-Terroristin Zschäpe, Wie akribisch der NSU seine Morde plante
01.10.2012, HR-Online, Kassel, Halitplatz erinnert an NSU-Opfer
01.10.2012, Frankfurter Rundschau, NSU-Untersuchungsausschuss, Bouffier und seine Wahrheit
28.09.2012, Stern, Kassler NSU-Mord, Bouffier poltert im Untersuchungsausschuss
28.09.2012, Sueddeutsche, NSU-Untersuchungsausschuss, Wie Bouffier die Ermittler bremste